Re-Imagining the Church in the 21st Century

Wäre deine Gemeinde morgen nicht mehr da, würde man es merken? Mit dieser Frage schloss Graham Tomlin seinen Vortrag an den Studientagen in Fribourg. Der anglikanische Bischof aus London und die anderen Referenten entwarfen ein höchst facettenreiches, von Hoffnung erhelltes Bild von Kirche im 21. Jahrhundert, ohne auszublenden, was das Christsein Europäern in diesen Zeiten abfordert.

Die dritten Studientage zur theologischen und geistlichen Erneuerung an der Universität Fribourg führten die Teilnehmenden auf einen anspruchsvollen Parcours. Erahnen liess er sich bereits im ökumenischen Eröffnungsgottesdienst in der Kathedrale. Die fünf Hauptreferenten schilderten, wie sie sich die Kirche erträumen: von Zuversicht, Barmherzigkeit und Kreativität erfüllt, von der unbegrenzten Kraft des Gottes der Auferstehung durchwirkt, als ein immer noch grösseres Haus, welches von Christus gebaut wird, um Völker an seinen Tisch zu laden. Kirche, die durch Liebe aus Verhärtungen und Verzerrungen herausfindet. Ein Ort, wo «Gering-von-sich-Denker ihre Würde finden, Reiche teilen und Arme nicht beleidigt werden».

Der Einladung des Studienzentrums für Glaube und Gesellschaft unter Leitung von Walter Dürr folgten gegen 400 Personen. Am Anfang der Tage standen Morgenandachten mit Taizé-Liedern. Im weiten Halbrund der Aula machten die Referenten deutlich, dass ein neues Bild von Kirche nicht produziert werden kann, sondern von Christus, ihrem Herrn, im Heiligen Geist geschenkt wird. Zu entdecken ist es und zu konkretisieren auf biblischen Grundlagen; die Kirche hat sie erhellt, aber in ihrer Geschichte auch verdunkelt.

Vergessen, dass wir überleben wollen
Von Christus hat die Kirche den Auftrag, ihn und Gottes kommendes Reich zu bezeugen. Dabei bläst ihr steifer Wind entgegen. Wozu überhaupt glauben? Heute überzeugen Christen, wenn sie klar sagen können, warum sie glauben und was Kirche soll – und entsprechend leben. Graham Tomlin, anglikanischer Bischof in London, betonte, dass Gläubige den Grund nicht in sich finden können. Gott steht am Anfang; er erwählt Menschen, und dies nicht, weil sie besser sind, sondern damit er mit ihnen den Rest der Menschheit segnen kann. Tomlin spitzte dies zu für Kirche im 21. Jahrhundert: Ihre Zukunft zeigt sich, wenn sie sich nicht ums eigene Überleben kümmert, sondern alles daran setzt, ein Segen für andere zu sein.

Jane Williams vom St. Mellitus College in London fokussierte auf Glauben und Hoffnung, die im Gebet erstarken. Kirche wird neu durch glaubende Menschen, die zum Gebet angeleitet werden und im demütigen Verlangen nach Gerechtigkeit, Heil und Versöhnung leben. Jane Williams betonte: Das neue Bild von Kirche schenkt der Heilige Geist – wenn Menschen Gott ins Zentrum rücken und seinem Wesen entsprechend leben lernen, als «treue und verlässliche Gemeinschaft». Die Kirche könne ein «Zeichen und Vorgeschmack» des anbrechenden Reiches Gottes sein.

Mit Jona nach Ninive
Michael Herbst nahm die Hörer mit auf eine Reise mit Jona, übers Meer und nach Ninive. Die Geschichte des Propheten zeigt drastisch, «wie schwer Gott es mit seinen eigenen Leuten hat … und wie erstaunlich dagegen die Menschen von ganz weit her sich benehmen». Gott erbarmt sich ihrer und rettet sie. Hier, so der Greifswalder Professor mit einem Verweis auf Papst Franziskus, beginnt die Erneuerung der Kirche – «mit der Umkehr zur Freude, mit der Freude der Umkehr». Als zweitem stattete Herbst Martin Luther einen Besuch ab. Noch 1526 ging der Reformator frei mit überkommenen Strukturen um und setzte auf jene, «die mit Ernst Christen wollen sein» – auf das allgemeine Priestertum. 500 Jahre später ist es noch zu realisieren.

Die Entwicklung von einer Volkskirche hin zu einer «öffentlichen Minderheiten- und Missionskirche» ist unausweichlich. Michael Herbst: «Wer nur selten mit Kirche zu tun hat, neigt nicht dazu, seinen Kindern eine belastbare religiöse Erziehung angedeihen zu lassen.» Das zum Glauben einladende Reden von Christus ist in Europa neu und doppelt gefordert: für Menschen, die das Evangelium noch nie vernommen haben, aber auch «mit Blick auf Menschen, die zwar kirchentreu, aber glaubensfern zu uns gehören».

Fruchtbare Enttäuschung
Die Aussagekraft der Apostelgeschichte für ein zeitgemässes Bild von Kirche machte Frère Richard von der Communauté de Taizé sichtbar. Das zweite Buch des Lukas verzeichnet den Frust der Apostel darüber, dass Jesus nicht politischer Herrscher in Jerusalem wurde. Doch transformierte er sie und ihre Freunde am Pfingsttag mit dem Heiligen Geist. Die Urgemeinde lernte zu buchstabieren, dass das «Reich Gottes» auf diese Weise bei ihr anfing: im gemeinsamen Lobpreis, in liebevoller Gemeinschaft und im Teilen von Gütern.

Manche Erwartungen der Apostel, so Frère Richard, «mussten enttäuscht werden, damit ihnen Gott neue Horizonte eröffnen konnte». Jahre später wurden Nicht-Juden in die Kirche aufgenommen: Ohne über politische Macht zu verfügen, initiierten die Apostel dadurch im Kleinen Verständnis und Frieden zwischen Völkern – das Muster für das Frieden-Stiften der christlichen Kirche, auch in der globalisierten Welt.

Vom Evangelium ergriffen
«Evangelisation ist der Name für die wichtigste Erneuerungsbewegung des Kosmos.» Doch wird sie hierzulande in der akademischen Theologie kaum reflektiert, nach Ralph Kunz wohl auch, weil der, der sich mit ihr befasst, von ihr erfasst, «und wer sie begreifen will, ergriffen wird». An der Zeit ist laut Kunz ein kritisches Prüfen früherer und aktueller Evangelisation, «ein methodisch kontrolliertes Nachdenken, das der Dynamik und der Wirkung des Evangeliums folgt». Das Mass gibt Jesus vor; an seiner Evangelisation sei jede Mission der Kirche zu messen, sagte Kunz. Aufs Ganze übertragen: «Re-imagining the Church» heisst «sich von Gott ins Bild setzen lassen: zurückfinden zur Vision, der sich die Kirche verdankt.»

Die Vorträge der Studientage 2016 werden als Buch erscheinen.
Webseite des Studienzentrums Glaube und Gesellschaft