• Neue Gottesdienstformen – eine kritische Selbstbefragung

    Die gottesdienstliche Vielfalt trägt auch im Berner Vorort Ittigen der sozialen und kulturellen Segmentierung unserer Gesellschaft Rechnung. Ob jemand in der Popkultur oder Klassik zuhause ist, ob jemand am TV eine Talkshow, einen akademischen Vortrag oder „Sternstunde Philosophie“ vorzieht, ob jemand gerne still meditiert und ein lateinisches Lied 20 mal singt, oder lieber laut und tanzend sich beschwingten Melodien hingibt: Es findet sich ein Gottesdienst, der ein bisschen passt.

    Meistens aber ist auch dieser ein kultureller Hybrid, in dem sich alle ein wenig „im falschen Film“ vorkommen. Damit ist noch keine Erneuerung geschaffen. Sondern erst ein schwaches kirchliches Abbild der multi-optionalen Gesellschaft. Wer wählen kann, wählt aus: Hatten wir vor 20 Jahren vielleicht 200 Leute pro Woche in zwei verschiedenen Gottesdiensten, so sind es heute 400 in sieben verschiedenen. Das Altersspektrum ist etwa gleich geblieben.

    Wachstum?
    Bedeutet das „Wachstum“? Ja, denn der Anteil der Reformierten im Gemeindegebiet ist im gleichen Zeitraum von weit über 7000 auf unter 6000 gesunken. Ja, denn ein gleicher Anteil an Jugendlichen und an jungen Erwachsenen ist bei einer dramatisch nach oben gewachsenen Alterspyramide alles andere als selbstverständlich! (Die Zahl der Konfirmanden hat sich im fraglichen Zeitraum halbiert. Die Demografie lässt sich auch durch volle oder lebendige Gottesdienste nicht verändern.) Ja, denn von den 200 gehörten damals vielleicht 150 zum treuen Gemeindekern, der fast immer da war. Heute wählen auch diese Leute aus. „Regelmässig“ bedeutet heute nicht mehr wöchentlich sondern monatlich. Das bedeutet: Der Pool der „Regelmässigen“ ist heute vielleicht dreimal so gross, wenn die Kirche gefüllt wird!

    Bedeutet das Erneuerung? Nein, denn der gottesdienstliche Aufwand hat überproportional zugenommen. Nein, wenn auch engagierte Christen sich postmodern konsumorientiert verhalten. („Was passt mir, was entspricht mir persönlich?“)

    Vielfalt
    Könnte es doch an der Multiplikation der Gottesdienst-Formen liegen, wenn bei einer schrumpfenden und älter werdenden Bevölkerung die Gottesdienste etwa gleich jung bleiben und wesentlich mehr Leute kommen? Unbedingt, denn nur die Vielfalt der Formen macht die Mitarbeit und aktive Mitbeteiligung von so vielen möglich. Das bedeutet: Wer kommt, erlebt hier nicht primär aktive Profis, sondern Gemeinde in ihrer Vielfalt. Leib.

    Was anspricht, ist das Spüren dieser Gemeinde: Hier sind Menschen, die ihre Freizeit, ihre Kreativität ihr Herzblut, ihre Gaben einbringen. Das ginge ohne Formenvielfalt nie und nimmer. Hier sind Leute, die zusammenarbeiten und brennen. Hier ist Einheit der Generationen und Geschlechter. Gerade in kulturellen „Hybriden“ wird es besonders spürbar:

    Hier ist Einheit von Kulturen, die überall sonst in der Welt auseinander brechen. Hier sind Menschen, denen offenbar etwas wichtiger ist, als persönliche Vorliebe und Geschmack. Ein Rapper hört im Gottesdienst auch Jodel. Ein eingefleischter Taizé-Pilger macht auch mit bei angelsächsischem Worship. Das ist noch keine Erneuerung. Aber vielleicht ein kleines Stück Achtung und Versöhnung. Vielleicht wird etwas von der überraschenden Liebe Christi spürbar.

    Bernhard Jungen war bis 2016 Pfarrer in Ittigen.
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