• «Diversität zulassen und das Gemeinsame pflegen»

    Wie kann und soll der reformierte Predigtgottesdienst im 21. Jahrhundert gestaltet werden? Das LKF hat mit Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie an der Uni Zürich, über Erneuerung und Bewahren gesprochen.

    LKF: Sie haben 2006 in Ihrem Buch „Der neue Gottesdienst“ für einen liturgischen Wildwuchs plädiert und dafür Leitlinien vorgegeben. Was hat das Buch ausgelöst?

    Ralph Kunz:
    Da und dort Diskussionen. Echos gab es vor allem auf den Titel. Dabei ist mir aufgefallen, dass die meisten nur den Titel gelesen haben. Wie weit im gottesdienstlichen Bereich etwas gewachsen ist, kann ich nicht sagen. Dazu müsste man mit feinen Instrumenten die liturgische Landschaft überwachen. Mein subjektiver Eindruck: in einigen Gemeinden sind Gottesdienstexperimente eher am Kriseln, weil die Ressourcen knapp sind oder sich kein Erfolg einstellen wollte. Das gehört zum Phänomen der ausserordentlichen Angebote.

    Zwingli und Bullinger ging es darum, dass nichts von der heiligen Mitte ablenke. Wie ist die Predigt heute zu pflegen, damit der Gottesdienst nicht nur der Belehrung im Glauben, sondern der Erneuerung des ganzen Menschen dient?

    Die Predigt sollte Tiefgang haben und doch verständlich sein. Ich könnte fortfahren und weitere Spannungen formulieren: Eleganz und geistliche Vollmacht, poetisch mehrsinnig und intellektuell redlich. Als anmutige Rede (Albrecht Grözinger) ist die Predigt auch mutige, tapfere oder couragierte Rede. Immer mehr sehe ich sie auch als eingebettete Prophetie und Seelsorge. Wir müssen wieder neu lernen, dass die Erneuerung des ganzen Menschen das Leben in und mit der Gemeinschaft voraussetzt.

    Sie haben betont, dass Erneuerung geschieht, wo Menschen Gott die Ehre geben, sein Heilswerk vergegenwärtigen und um sein Kommen bitten. Es braucht alle drei Dimensionen. Wie kommen wir weg von Einseitigkeiten?

    Wir Reformierten haben die Tendenz, uns selbst als Erneuerer der Tradition zu verstehen. Wir meinen, wir müssten die Formen ändern, damit wir die verändernde Kraft des Evangeliums erfahren. Von den Katholiken, Anglikanern und Lutheranern könnten wir lernen, dass gute Formen Innovationskraft speichern. Der Abendmahlsgottesdienst ist hochkonzentrierte Erneuerungskraft. Wenn wir regelmässig feiern, werden wir nicht einseitig. Mein Anliegen ist es, die Grundvollzüge in den Formen wieder zu entdecken, sie bewusst und damit auch gestaltbar zu machen.

    Wahrer Gottesdienst konfrontiert mit dem Heiligen. Wie soll der Heilige Geist wirken? Müssen wir neu auf ihn warten? Ihm zugestehen, dass er die vertraute Ordnung durcheinander bringt?

    Im Kern ist geistliches Leben eine Kehrtwende. Wenn ich nicht bereit bin, mich vom Heiligen Geist überraschen zu lassen, geschieht nichts. Im Neuen Testament gibt es dafür spannungsvolle Bilder. Paulus mahnt zum Bleiben, zur Wachsamkeit und zum Wandel im Geist. Mit Blick auf die Ordnung kann ich mir durchaus vorstellen, dass im Gottesdienst dem Wirken des Geistes bewusst Zeit und Raum gelassen wird. Sei es im stillen Gebet oder durch Segenshandlungen. Es geht ja nicht um korrekte Liturgie, die alles abdecken kann und soll! Das Ziel jeder Feier ist die Begegnung mit Gott. So kann einmal der Akzent stärker auf der heilenden Umarmung, das andere Mal auf der heilsamen Herausforderung oder dem heiligenden Ruf in die Nachfolge liegen.

    Sie fragen im Buch nach dem Platz des gemeinsamen Schuldbekenntnisses. Was ist verloren gegangen, als es aufgegeben wurde? Wie wäre es wieder zu gewinnen?

    Gemeinsam Schuld bekennen ist entlastend. In der Verbundenheit mit der Schuldgemeinschaft suche ich auch die Verbindung zur Gemeinschaft der Heiligen. Etwas zugespitzt: wenn wir für unsere krummen Wege gerade stehen, sind wir bereit für den aufrechten Gang.
    Demut ist der Anfang der Würde und Stolz reines Gift für das geistliche Leben. Wenn wir daher stolzieren wie aufgeblasene Gockel, die ständig "Verrat" krähen, hören wir nicht, dass Jesus uns fragt: Willst Du meine Schafe hüten?

    Man geht ‚zPredig‘ – der Gottesdienst wird als das gesehen, was die Pfarrerin, der Pfarrer durchführt. Wie kommt die Gemeinde dazu, Subjekt zu werden und ihn als ihre Feier zu erleben?

    Das ist eine wichtige Frage. Keine Gottesdienstreform ohne Gemeinderneuerung, keine Gemeindereform ohne Gottesdiensterneuerung. Das eine bedingt das andere. Und das heisst auch, dass man auf verschiedenen Ebenen ansetzen muss, damit Gemeinde selbstbewusster werden kann. Um solche Entwicklungen fachlich, theologisch und geistlich zu begleiten, braucht es ein starkes Pfarramt.

    Was soll die „DRS2-Kultur“ des Wortgottesdienstes, wenn das ABC des Glaubens dem Grossteil der Menschen fremd wird?

    Wir brauchen die DRS2-Kultur. Ich fände es schade, wenn man dagegen polemisiert. Es ist aber eine Tatsache, dass wir viel weniger Expertinnen und Experten für eine durchaus "hochstehende" DRS1- und DRS3-Kultur haben. Ich bin überzeugt, dass wir in der Ausbildung mehr in diese Richtung investieren sollten. Ermutigende Ansätze gibt es.

    In der sogenannten Zürcher Liturgie kommt nach Sammlung, Anbetung und Wortauslegung die Fürbitte: Der Gottesdienst nimmt die Welt in den Blick, wird politisch. Blicken Gemeindebauer zu sehr nach innen?

    Ja. Gemeinden mit starker Aussenorientierung haben gewöhnlich ein reiches Innenleben. Der Einsatz für andere ist ein Zeugnis. Es vitalisiert die Gemeinschaft. Die sorgfältig gestaltete Fürbitte, aber auch die Kollekte können durchaus als Zeichen für das Leben einer Gemeinde gelesen werden.

    Wie kann die Gemeinde mit verschiedenen, nebeneinander stehenden Gottesdienstformen als eine Gemeinschaft unterwegs sein?

    Wir müssen wegkommen von falschen Alternativen. Entweder klassisch oder modern. Entweder evangelikal oder liberal. Entweder traditionell oder alternativ. Um nicht vom Hundertsten ins Tausendste zu gelangen, muss die Gemeindeleitung Wege finden, die Diversität zuzulassen und das Gemeinsame zu pflegen. Die Mitte wird sich stärker am klassischen Modell orientieren, dieses aber gerade als Chance zur Erneuerung erkennen. Ich bin sehr dafür, dass wird den Abendmahlsgottesdienst als feierlich und festlich gestaltete Mitte der Gemeinde verstehen. Man kann Formen wieder lernen. Das braucht Geduld und langen Atem. Wichtig schiene mir, die Gottesdienstgemeinde als eine lernende Gemeinschaft zu verstehen.