«Stündeler» und «Papierchristen»
«Durch Jesus Christus, mit dem Evangelium, führt Gott Menschen, die durch alle möglichen Trennungen zersplittert sind, zur Einheit zusammen.» An der Tagung «Evangelische Einheit?!» am 20. Juni 2014 in Bern sprach Prof. Dr. Matthias Zeindler, Leiter des Bereichs Theologie der Berner Landeskirche.
Zeindler leitete seine Überlegungen mit den Worten des Paulus in Epheser 4 ein. Die ersten Christen rangen um Einheit und hielten daran fest, wie es das Apostolikum bezeugt. „Die Kirche ist eine – das ist das Erste, was von ihr zu sagen ist.“ Somit können Spaltungen sich nicht aufs Evangelium beziehen. Laut Zeindler sind Spaltungen – nicht aber Vielfalt in und unter den Gemeinden – „eigentlich immer unevangelisch“. Daher gelte es, die bestehenden Differenzen mit ganzem Ernst in den Blick zu nehmen.
Was trennt?
Die Evangelischen haben eine grosse gemeinsame Geschichte und teilen die Grundsätze der Reformation: solus Christus, sola gratia, sola fide, sola Scriptura. Darauf, so Zeindler, „können wir uns alle einigen“. Die Pietisten sahen sich auf dem Boden der Reformation und wollten sie weiterführen, die Lehre ins Leben übersetzen. Doch mit dem Durchbruch der Reformation (welche im Ansatz auf die Erneuerung der katholischen Kirche zielte) hatte die evangelische Zersplitterung eingesetzt. Sie nimmt durch Aufbrüche zu: Vom Geist Bewegte gehen eigene Wege; die Bewegung erstarrt in der nächsten Generation zur Institution.
Klischees
Der Referent sprach die „liebgewordenen Klischees“ an, die es Landes- und Freikirchlern noch immer leicht machen, sich in der Distanz voneinander einzurichten. Die einen werden als Stündeler, Buchstabengläubige, fromme Heuchler, Ewiggestrige, noch nicht in der Gegenwart Angekommene bezeichnet. Sie werden eventuell als Fanatiker und – laut Zeindler inflationär – als Fundamentalisten gestempelt. Damit riechen sie nach Sekte, was vielen recht ist, die sich nicht mit ihnen befassen wollen. „Auf der anderen Seite ist die Munition nicht weniger scharf:“ Freikirchler sprechen von Reformierten als Papierchristen, Karteileichen, Sonntagschristen, Heuchlern und Relativisten.
Wie ansetzen?
Einheit gilt es zuerst theologisch zu verstehen. Zeindler: „Gott hat unterschiedliche Wege, Menschen für sich zu erreichen. Es gibt nichts Persönlicheres als Wort Gottes. Er redet zu jedem von uns auf ganz andere Art. Und doch ist es immer das Evangelium, dasselbe Wort Gottes.“ Daher ist Einheit nicht Einförmigkeit. Jesus erzählte das Gleichnis vom Unkraut im Weizen: „Es ist unsere Aufgabe, auf den Herrn zu warten, der die Scheidung vornehmen wird.“ Vielfalt ist nicht nur auszuhalten, sondern zu begrüssen – weil der Heilige Geist vielfältig wirkt und unterschiedliche Charismen schenkt.
Charismen wahrnehmen
Als Charismen der Freikirchen und bekennenden Gemeinschaften nannte Zeindler verbindliches Christsein, Liebe zur Bibel, zu Jesus, ernsthaftes Fragen nach Gehorsam, in alledem Commitment – auch finanziell. Die Landeskirchen ihrerseits zeichnen sich aus durch „Sensibilität für verschiedene Formen des Glaubens“ und man wertet nicht, welche Form gültig ist. Die Bibel wird als ein „unter weltlichen Bedingungen entstandenes und tradiertes Buch“ gelesen und das Gespräch mit Kultur, Wissenschaft und Politik gepflegt. Reformierte wollten das Christsein im Horizont der jeweiligen Gesellschaft leben und auf Augenhöhe mit ihr kommunizieren, sagte Zeindler. Sie seien zudem offen, sich mit anderen Religionen zu beschäftigen.
Abgrenzung
Aber: Landes- und Freikirchen ergänzen sich nicht mit ihren Charismen, weil sie unterschiedlich Grenzen ziehen und auf Homogenität setzen. Der Evangelikale wisse „genau, was Markus 8 mir heute morgen zu sagen hat“, bemerkte Zeindler. Manche Frommen seien „sehr auf Du mit Jesus“. Er, die zweite Person der Trinität und künftige Weltenrichter, werde zum Kumpel. Und manche trieben einen Kult um die Familie. Dagegen habe das lose Verhältnis zur Bibel auf reformierter Seite zum Traditionsabbruch geführt, zu einem „Christentum ohne Christus: Man redet nur noch von Werten, von der jüdisch-christlichen Tradition, nicht mehr von der zentralen Person in der Tradition.“ So verliere landeskirchliches Christentum die Prägekraft des Glaubens; statt Verbindlichkeit gebe es (nur noch) Vielfalt.
Ins Gespräch kommen
Einheit kann es nach alledem nur in der Vielfalt geben, in „versöhnter Verschiedenheit“, wie altevangelische Kirchen formuliert haben, die seit Jahrzehnten in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) verbunden sind und Unterschiede ohne kirchentrennenden Charakter stehen lassen. Die Berner Landeskirche und ihre Gemeinschaften haben ihre Differenzen in Gesprächen über fünf Jahre bearbeitet und im November 2013 eine Gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Sie führt auf, was die Kirche und die Gemeinschaften eint, was sie trennt bzw. wo sie sich (konkret!) verpflichten. Nach diesem Muster können auch Reformierte und Freikirchler miteinander ins verbindliche Gespräch kommen.