«Am Lebensende zählen Begleitung, Zuwendung und ein Glaube, der trägt»
Im Vertrauen auf Jesus Christus, den Auferstandenen, hat das Sterben eine andere Dimension. Befreiung, Frieden und Freude liegen drin. Die Aargauer Pfarrerin Karin Tschanz plädiert aus reicher Erfahrung für sorgfältige und respektvolle Seelsorge im Rahmen der Palliative Care. Die Kirchen haben nicht nur bestens ausgebildete Fachpersonen der Seelsorge und Diakonie sowie sorgfältig vorbereitete Freiwillige. Sie können auch Glaube, Liebe und Hoffnung vermitteln, die Menschen im Leben, im Sterben und über den Tod hinaus stärken.
LKF: Wie hat sich die Betreuung von Sterbenden in den letzten Jahrzehnten gewandelt?
Karin Tschanz: Palliative Care bei chronisch fortschreitenden Krankheiten und am Lebensende schliesst psychische, soziale und spirituelle Begleitung ein. Das Schmerzmanagement ist von grösster Bedeutung. Es hat in den letzten 20 Jahren enorme Fortschritte gegeben. Doch ebenso wichtig ist, wie es dem inneren Menschen geht, seiner Seele, seinen Beziehungen und seinem Glauben und wie Menschen ihr Schicksal psychisch bewältigen können. Auch die Vorstellungen vom Leben nach dem Tod fliessen in die Palliative Care ein. Die Zusammenarbeit der Fachpersonen ist enorm wichtig. Anders als in der kurativen Medizin werden die Angehörigen bewusst einbezogen - und zunehmend auch die Freiwilligen.
Was ist am Lebensende noch möglich?
Der Sekundentod, von den meisten Menschen gewünscht, ist für Angehörige ein Schock. Dank der modernen Medizin kann das Lebensende und der Abschied, falls das erwünscht ist, etwas verlängert werden. (Das neue Erwachsenenschutzgesetz, in Kraft seit 2013, verpflichtet den Arzt, beim Patienten und seinen Angehörigen nachzufragen, was sie wünschen. Ihre Rechte werden höher gewichtet.) Wenn es klar ist, dass jemand aufs Sterben zugeht, und die Hilflosigkeit zunimmt, werden Beziehungen sehr wichtig. Dann wird noch Wesentliches besprochen, man hält Rückblick, bittet um Verzeihung und verzeiht, man sagt oft, was einem Leid tut, und hat das Bedürfnis, Frieden zu machen. Ich erlebe, dass das auch geschieht. Was verfehlt wurde, was im Streit oder Beziehungsabbruch endete, belastet. In dieser Zeit kann es ausgesprochen werden. Die Liebe stärkt. Wenn Mitmenschen Schwerkranken und Sterbenden mit Liebe begegnen und Zuwendung geben, atmen Sterbende auf und können als Getragene mutiger angehen, was vor ihnen liegt.
Wie kommen Worte vom ewigen Leben in diesen Umständen an?
Als Seelsorgerin habe ich es vielleicht einfacher, den Glauben anzusprechen. Oft wird von mir erwartet, dass ich Worte der Hoffnung bringe. Am Anfang des Wegs, etwa bei der Diagnose, sagen noch viele, andere hätten die Seelsorge wahrscheinlich nötiger als sie selber, sie hätten mit der Kirche nicht viel am Hut, oder: sie hätten ihre eigene Philosophie. Das Leben nach dem Tod ist auch gedanklich für die meisten eine grosse Unbekannte.
Und wenn sie dem eigenen Tod in die Augen sehen müssen?
Dann kommen Fragen nach dem ewigen Leben bei Glaubenden ebenso wie bei Nicht-Glaubenden: Stimmt das, was uns gesagt wurde? Himmel, Hölle, Gericht? Bei vielen Menschen ist noch Angst vor dem Sterben da: In der Jugend hörten sie auch Abschreckendes oder sie erinnern sich vor allem daran.. Sie schoben es weit weg, weil es unglaubhaft und unverständlich war - vor dem eigenen Tod tauchen diese zum Teil unverarbeiteten Erinnerungen wieder auf.
Eine sterbende Frau liess mich rufen. Sie hatte im Konfirmanden-Unterricht die Hölle zeichnen müssen. Nun wollte sie wissen, was sie erwartete. Sie wusste, dass sie in ihrem Leben auch Fehler machte und schuldig wurde. Ich teilte ihr mit, dass ich nur auf das hinweisen kann, was Jesus dem Mann sagte, der neben ihm gekreuzigt und ihn bat, an ihn zu denken, wenn er in sein Reich komme: "Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein."
Als Überwinder des Todes hat Jesus Worte für uns, die sonst niemand sagen kann.
Ja. Denn auch bei denen, die in der Kirche zu Hause sind, brechen nicht selten schwere Fragen auf. Und es betrübt mich sehr, im Seelsorgegespräch von vielen Menschen zu hören, dass sie Angst vor Gott haben, weil sie nicht vom liebenden und barmherzigen, sondern vom harten und strafenden Gott hörten. Was Jesus dem Verbrecher am Kreuz kurz vor seinem Tod sagte, kann in der eigenen Todesstunde eine grosse Kraft sein.
Viele sagen, es sei noch kein Verstorbener je zurückgekommen. Ihnen gegenüber halte ich fest, dass wie als Christinnen und Christen glauben, dass einer zurück kam, nämlich Jesus, der nach seinem Tod auferstanden ist und vielen seiner Freunde begegnete. Er sagte, er geht, um uns beim Vater eine Wohnung bereit zu machen. "Ich lebe, und ihr sollt auch leben." Im Angesicht des Todes sind Menschen durchlässiger für Glaubenserfahrungen. Studien zeigen zudem, dass einige Sterbende besondere Visionen haben, oder Verstorbene sehen und dadurch Trost empfangen. Manche erzählen von spirituellen Erfahrungen, die für sie erstaunlich und kostbar sind.
Welche Rolle spielt das Gebet?
Es gibt mehr Glauben, als man denkt. Viele Menschen beten, wenn sie in einer Krise sind und auch in der letzten grossen Krise des Lebens, im Sterben. Wenn Menschen auf mein Angebot eines Gebets eingehen, habe ich oft erlebt, dass sie ihre Lippen bewegen oder am Schluss Amen sagen. Manchmal schlagen sie am Ende des Gebets die Augen auf. Ich erlebte auch schon, dass Angehörige der Pflege sagen, dass der Sterbende kein Bedürfnis nach Seelsorge oder Gebet habe.
In einer Situation liess mich ein schwerkranker Mann wissen, es sei ihm recht, wenn ich wiederkomme. Als ich zu ihm gehen wollte, liess seine Tochter ausrichten, ihr Vater habe keinen Bedarf nach Seelsorge. Erst als ich darauf hinwies, dass der Sterbende selbst damit einverstanden war, dass ich ihn wieder besuche, wurde ich eingelassen. Er war nicht mehr ansprechbar und lag seit Wochen im Sterben. In wenigen Worten wies ich auf Gottes Liebe hin und auf seine Absicht, uns vergeben zu wollen, was wir im Glauben annehmen dürfen. Ich sprach einen Segen und ein Unser Vater. Als ich das Amen aussprach, atmete er aus und starb. Andere Seelsorgende bestätigen mir im Gespräch ähnliche Erfahrungen. Das Gebet und Worte der Hoffnung und des Vertrauens sind wichtig am Ende des Lebens. Sie können dazu beitragen, in Frieden zu sterben.
Wie stellen Sie sich zur Forderung, den Alterssuizid von Menschen ohne todbringende Krankheit gesetzlich zu erleichtern?
In uns Menschen ist ein Widerspruch: Einerseits möchten wir das Leben bis zum letzten Tropfen auskosten, andererseits beschliessen einige aus Angst, Verzweiflung oder weil sie die Unsicherheit nicht ertragen können, den letzten Teil ihres Lebens abzuschneiden, was den Verlust von tiefen seelischen Erfahrungen bedeutet.
Der Wunsch, die Todesstunde zu bestimmen, hat zum Teil mit der Vorstellung zu tun, dass die Medizin zu weit geht im Bestreben, das Leben zu erhalten. Man will der Maschinerie nicht ausgeliefert sein. Die Mitgliedschaft bei einer Suizidorganisation wird von manchen als Versicherung angesehen. Vielleicht haben sie den schlimmen Tod einer nahestehenden Person erlebt. Doch diese Befürchtungen sind, auch aus Kostengründen, kaum noch zutreffend. Zudem setzt heute genau an diesem Punkt die Palliative Medizin, Pflege und Betreuung ein: Sie lindert Schmerz, ohne Leben verlängern zu wollen. Und Patientenverfügungen schützen vor unerwünschter Behandlung am Lebensende.
Wenn jemand sein Leben beenden will, ist es wichtig, nach den Motiven zu fragen: Wie kommt das? Was belastet dich? Was ist nicht so, wie du es dir vorstellst? Viele haben ihr ganzes Leben selbständig gestaltet und wollen auch ihr Ende managen.
Suizidorganisationen wären in diesem Sinn Vollzugsgehilfen der Macher-Gesellschaft. Fragen solche Menschen um Ihre Hilfe?
Wenige. Eher ihre Angehörigen, für die ein Suizid, auch ein assistierter, in der Regel schwierig ist. Denn nach dem Suizid kommen Gefühle hoch, die sie aus Respekt dem/der Sterbenden gegenüber nicht äusserten: Enttäuschung, Wut, auch grosse und komplizierte Trauer belasten oft noch lange. Das schlechte Gewissen meldet sich: Hätte ich anders gehandelt, hätte er/sie vielleicht nicht so sterben wollen.
Das Problem sind nicht die wenigen, die ihr Sterben wie ihr Leben ganz bestimmen wollen. Viel mehr ist die Frage, wie wir als Gesellschaft mit Hochbetagten, Pflegebedürftigen und Sterbenden umgehen. Menschen, die nicht mehr leistungsfähig sind, sehen sich oft nur noch als Last. Viele sind einsam und wissen sich am Ende ihres Lebens nicht mehr geliebt, gebraucht und geschätzt. Zu leben macht für sie keinen Sinn mehr. Das Vermögen schmilzt rasch und manche hören von ihren Kindern, was das Pflegezentrum kostet.
In solchen Umständen ist eine gute Begleitung und Unterstützung äusserst wichtig! Dank der liebevollen Zuwendung, dem Verständnis und, wenn möglich, einer neuen Aufgabe, sei sie auch noch so klein, können Menschen an ihrem Ende nochmals aufleben, weil sie geachtet werden und ihre reiche Lebenserfahrung als Ressource für andere gesehen wird. Die allermeisten sehen dann vom Suizid ab. Von allen Todesfällen sterben insgesamt 0.8% durch assistierten Suizid und insgesamt ist ein Prozent der Bevölkerung Mitglied einer Suizidorganisation. Entscheidend ist fast immer die Liebe.
Im greisen Alter sind viele lebenssatt und möchten sterben - auch wenn sie sich geliebt wissen.
Ja. Gerade ihnen ermöglicht die Palliative Medizin, Pflege und Begleitung, ohne Lebensverlängerung in Ruhe zu sterben. Lebenserhaltende Behandlungen, Therapien und Medikamente können mit ärztlicher Beratung abgebrochen und abgesetzt werden. Am Ende schwinden Appetit und Durst oft. Betroffene können selber entscheiden, was ihnen noch zugeführt werden soll. Zudem können geschwächte und lebenssatte Menschen bei einem Infekt, z.B. Grippe oder Lungenentzündung, auf Antibiotika verzichten, was den Hinschied beschleunigt. Es gibt viele Möglichkeiten der Selbstbestimmung in der Palliative Care, die jedoch noch nicht genügend bekannt sind. Interessant ist, dass einige nochmals aufleben, wenn sie ihre Tabletten und Behandlungen absetzen!
Was möchten Sie in der Gesellschaft und in der Kirche kultivieren?
Ich wünsche mir, dass Menschen dem Geheimnis des Lebens und der Liebe Gottes näher kommen. Dass sie in den grössten Herausforderungen des Lebens mehr Gottvertrauen haben und dadurch weniger Angst, weil sie wissen: Da ist ein lebendiger Gott. Ein mich liebender und mich begleitender Gott. Sterbende können sich an die tragenden Zusagen Jesu halten. Er ist da. In der Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, im Erinnern belastender Ereignisse und im Schmerz über konfliktreiche und distanzierte Beziehungen hat der christliche Glaube ein befreiendes Angebot, das ein Sterben, aber auch ein Leben in Frieden unterstützt. Schön wäre es, diese Ressourcen des Glaubens und Quellen der Kraft nicht erst im Sterben zu entdecken, sondern mit dieser Zuversicht zu leben.
Das Bundesamt für Gesundheit hat sich in der Nationalen Strategie Palliative Care zum Ziel gesetzt, dass alle Menschen, die dies wünschen, Zugang haben sollen zur ganzheitlichen Betreuung der Palliative Care, die neben der medizinischen und pflegerischen Behandlung auch die psychosoziale und seelsorgliche Begleitung einbezieht. Das schafft Raum für Trost, Hoffnung und Liebe. In der Zuwendung geht es sowohl um menschliche als auch um Gottes Liebe.
Seelsorgende haben Kompetenzen und ein Angebot, das andere Fachpersonen so nicht mitbringen. Die Gesellschaft ist gefordert durch die hochbetagten und pflegebedürftigen Menschen. Beste medizinische und pflegerische Versorgung ist wichtig, jedoch ist das Dasein, Zuhören und Eingehen auf die seelischen Bedürfnisse und Nöte mit Wertschätzung und Anerkennung ebenso zentral, um Lebenssinn und Freude wieder zu entdecken, auch angesichts des Unabwendbaren. Wenn man füreinander sorgt und mit Menschen in eine Beziehung tritt, ist das oft auf beiden Seiten, zur Überraschung aller, von Frieden und Freude begleitet, ein Geschenk, das nicht erwartet wurde.
Für Sie bemisst sich die Stärke der Gesellschaft an der Qualität von Beziehungen am Lebensende?
Ja, unbedingt. Als Kirche, mit vielen Seelsorgenden, Sozialdiakoninnen und Diakonen sowie Freiwilligen, haben wir eine sehr grosse Aufgabe. Wir können Menschen begleiten. Angesichts der grossen Einsamkeit vieler Menschen sind wir versucht zu denken, dass unsere kurzen Begegnungen, viel zu wenig sind, um eine Unterstützung sein zu können. Tatsache ist aber, dass jede Begleitung, sofern sie auf Zustimmung stösst, kostbar ist und mehr bewirken kann, als wir annehmen. Durch unsere Anwesenheit können wir Menschen die letzte Zeit viel erträglicher machen. Einige erlebten in ihrem Leben viel Härte, Not, Arbeit und Leid. Und so manche dankten immer wieder für die Liebe und Zuwendung, die sie auf diese Weise zuvor noch nie erlebten: Beziehungen, der Glaube, sich helfen lassen und getragen werden. Sowohl Sterbende als auch sie begleitende Menschen staunen, wie reich die letzte Zeit sein kann.
Sie haben als Pionierin die Aus- und Weiterbildungen der Aargauer Kirche in Palliative und Spiritual Care für die Begleitung am Lebensende organisiert. Die Kurse stehen Fachpersonen der Medizin, Pflege, Seelsorge, Beratung, Physiotherapie sowie Freiwilligen offen. Sind nun genug Begleitende da?
Im Aargau haben wir insgesamt bereits 250 Personen ausgebildet, unter ihnen sind 140 Freiwillige, die sich in 14 Regionalgruppen engagieren. Sie wissen um die Prozesse am Ende des Lebens. Sie stehen Schwerkranken, Sterbenden und ihren Angehörigen zur Verfügung. Wer ein Gespräch oder eine Begleitung wünscht, kann die Einsatzzentrale des Kantonalen Palliative Care-Begleitdienstes anrufen. Sie sind verbunden mit den Seelsorgenden, die die Betroffene und ihre Angehörigen, sofern sie das wünschen, begleiten und ihnen mit Gesprächen, Gebeten oder der Feier des Abendmahls oder der Krankensegnung zur Seite stehen. Durch die Aus- und Weiterbildung von Fachpersonen ist die Seelsorge verbunden mit Hausärzten und Palliativ-Ärzten, Pflegenden in Spitälern, Pflegezentren, sowie der Spitex und Onkospitex, welche durch die Aus- und Weiterbildungen ein besseres Verständnis über die Seelsorge und ihre Kompetenzen erhielt und diese vermehrt einbezieht.
Seit es Kirche gibt, hat sie Kranke und Sterbende begleitet - immer mit Seelsorgenden, Diakoninnen und Diakonen und Freiwilligen. Es ist wichtig, dass sie kirchliche Aus- und Weiterbildungen in Palliative Care und der Begleitung von Schwerkranken und Sterbenden besuchen. Dann können sie in Palliative Care Teams mitwirken, die multiprofessionelle Zusammenarbeit mit Fachpersonen fördern und spirituelle Aspekte einbringen. Andere Organisationen bilden auch aus. Die Landeskirchen sind herausgefordert, hier mehr zu tun und sich in den allerorts beginnenden Palliative Care Stationen und mobilen Teams, in Aus- und Weiterbildungen anderer Organisationen und Ausbildner und in der Öffentlichkeit mit ihrem Angebot, ihren Kompetenzen und ihrem befreienden Glaubenshintergrund einzubringen.
Dr. Karin Tschanz, Pfarrerin und Psychotherapeutin, leitet in der Aargauer Kirche die Schulung von Fachpersonen und von Freiwilligen für Begleitung am Lebensende.
Informationen auf: www.palliative-begleitung.ch
Das Konzept der Aus- und Weiterbildungen, des Kantonalen Begleitdienstes und der Kantonalen Koordinationsstelle Palliative Care ist für andere Kantonalkirchen und Kirchgemeinden zugänglich.
Die Aus- und Weiterbildungen wurden gemäss den Qualitätsstandards von SwissEduc und den Richtlinien von palliative.ch und EduQua entwickelt.