Kirche und Gesellschaft, Glaube und Unglaube

Die gesellschaftlichen Veränderungen und die innere Schwäche der Reformierten fordern -– noch mehr als äusserliche Anpassungen –- ein Nachdenken über evangelische Kirche, ihr Wesen und ihren Auftrag in der Spätmoderne. Die Besinnung auf Kernfragen gelingt eher und trägt weiter, wenn verschiedene Sichtweisen einbezogen werden. In diesem Sinn sind hier sieben Bücher angezeigt, welche wesentliche Probleme der Kirchen benennen und/oder Perspektiven aufzeigen. Das Spektrum reicht von Werken, die den Gehalt des Glaubens aktuell fassen wollen, über religionssoziologische Analysen, welche die Reformierten und andere evangelische Kirchen im gesellschaftlichen Umbruch zeigen, bis zum Plädoyer für eine stärkere Verbundenheit der Kirchen.

Die sieben Bücher sind:
SEK (Hg.): Rede und Antwort stehen. Glauben nach dem Unservater
Willi Honegger: Mit seinen Worten Grosses erbitten. Wie Jesus uns beten lehrt
Marianne Vogel Kopp, Niklaus Peter: Den Glauben buchstabieren
Jörg Stolz u.a.: Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens
Jörg Stolz, Olivier Favre u.a.: Phänomen Freikirchen. Analysen eines wettbewerbsstarken Milieus
Paul Bernhard Rothen:Auf Sand gebaut. Warum die evangelischen Kirchen zerfallen
Lukas Kundert: Die evangelisch-reformierte Kirche. Grundlagen für eine Schweizer Ekklesiologie

Kirche Christi in der Ich-Gesellschaft: Innen- und Aussensichten, Analyse und Plädoyer.

Die Bücher, von ungleichem Gewicht, haben unterschiedliche Zielpublika. Miteinander wahrgenommen, schärfen sie den Blick auf die Lage der Reformierten im stärkeren säkularen Gegenwind. Neu ist er nicht, wie Gottfried Locher im Vorwort zum -– hier zuerst besprochenen -– Glaubensbuch schreibt: „"Christlicher Glaube provoziert Widerspruch, solange er die Welt, wie sie ist, nicht als letztes Wort akzeptiert. Darin unterscheidet sich die Lage der christlichen Gemeinden am Ende des 1. Jahrhunderts kaum von der Situation in unseren Kirchen heute. Damals wie heute geht es um die lebendige Hoffnung in einer Gesellschaft, der diese Hoffnung fremd wird.“"

Rechenschaft vom vielfältigen Glauben
Vom Rat des Kirchenbunds beauftragt, haben zwei Theologinnen und vier Theologen aus der Deutschschweiz und der Romandie anhand des Unservaters den christlichen Glauben in reformierter Façon dargelegt: vielstimmig, theologisch präzis und nicht eben einfach, da der Graben zwischen dem Geschehen vor 2000 Jahren und der säkularen Moderne mitbedacht wird. Ob die „"breite und gewollte Vielfalt von Glaubensvorstellungen“" zu einer einleuchtenden "„Sammlung von Glaubenserfahrungen"“ führt, wie Gottfried Locher im Vorwort ausführt, wird der Leser entscheiden müssen.

Das Buch steht im Zeichen des hohen Anspruchs, in Auslegung der Schrift, im Horizont der Reformation und moderner Theologie gut verständlich Rechenschaft über den Glauben zu geben. Mehrfach kreisen die Autoren um die Theodizeefrage; die Ausführungen sind mit Gewinn (auch von Nicht-Theologen?) zu lesen. "„Wer bittet erlöse uns von dem Bösen, steht schon auf dem Boden der bereits angebrochenen Erlösung und geht nicht dahinter zurück. Dieser Boden ist kein neutrales Terrain. Es ist vielmehr der '‚Glaubensboden'‘ der Hoffnung und Verheissung, dass sich Gottes Erlösung ganz durchsetzt, sein Reich kommen, sein Wille auch auf Erden geschehen wird".“ Vom auferstandenen Herrn mögen die Autoren allerdings nicht reden, sondern bloss von „"visionären Geisterfahrungen, in denen sich Jesus nach seinem Tod denen zeigt, die ihm vor seinem Tod nachgefolgt waren"“ (S. 112). Wie soll so lebendige Hoffnung genährt werden, Gottes Reich kommen und sich durchsetzen?

Umkehren und Grosses erwarten
Anders, seelsorgerlich und ohne explizite theologische Bezüge legt Willi Honegger das Unservater aus. Eine Predigtreihe in seiner Tösstaler Kirchgemeinde Bauma hat der Pfarrer zum Buch „"Mit seinen Worten Grosses erbitten"“ verarbeitet. Der Band will zeigen, "„wie Jesus uns beten lehrt"“, indem er den Vater vorstellt, an den wir uns miteinander wenden können. Honegger erwähnt dabei, dass es heute an Vätern und Vorbildern fehlt, verweist auf die moderne europäische „"Auflehnung gegen den himmlischen Vater"“ und wirft Schlaglichter auf die kirchliche Lage. In der Auslegung der Bitten hält der Pfarrer und Kirchenpolitiker fest, dass nur Gott die Macht hat, die aus den Fugen geratene Welt zurechtzubringen. Es gelte zu dieser frohen Botschaft umzukehren; das sei „"der einzige verheissungsvolle Weg in die Zukunft"“. Zum Schluss erläutert der Autor, "„warum wir Gott ehren“", und fragt nach der Gewissheit im Glauben.

Hilfreiches und Hypothesen
Wer mit eben dieser Frage zum Büchlein „"Den Glauben buchstabieren"“ greift, wird enttäuscht werden, auch wenn er Anregendes findet. Die 26 knappen Betrachtungen von Marianne Vogel Kopp und Fraumünsterpfarrer Niklaus Peter, ursprünglich in der Zeitung reformiert. erschienen, reichen von Amen bis Zion. Vom Autor sind einleuchtende, hilfreiche Gedanken etwa zu Rechtfertigung und Vergebung zu lesen. Aber was soll der Text der Autorin über Christus, der aus „"zwei bedeutenden palästinensischen Traditionen"“ schöpft: der hypothetischen Spruchquelle Q und dem Thomasevangelium? Die vier Evangelien sind für sie „"nicht Historie, sondern theologisch motivierte Kompositionen eines fiktiven Lebens dieses Jesus...".

Religiöse Typen und Milieus in der Schweizer Bevölkerung (Grafik aus dem Buch).<div class='url' style='display:none;'>/</div><div class='dom' style='display:none;'>landeskirchenforum.ch/</div><div class='aid' style='display:none;'>43</div><div class='bid' style='display:none;'>543</div><div class='usr' style='display:none;'>2</div>

Säkulare Konkurrenz in der Ich-Gesellschaft
Wohin die Hypothesen der protestantischen Bibelausleger ihre einst kulturell prägenden Kirchen gebracht haben, führen inzwischen Religionssoziologen vor. Jörg Stolz und Forscher seines Lausanner Teams sowie des Pastoralsoziologischen Instituts St. Gallen beschreiben "„Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft"“. Nach ihrem Befund (aufgrund mehrerer Studien und eingehender Gespräche) sind drei Viertel der einheimischen Bevölkerung der Schweiz ganz oder weitgehend auf Distanz gegangen zum Glauben, wie er in Kirchen gelebt und von ihnen vertreten wird. Von den „"vier Gestalten des (Un-)Glaubens"“, welche die Autoren beschreiben, fordert besonders die distanzierte, unentschiedene Form die Kirchen heraus.

Die Autoren beschreiben die umfassenden Folgen der kulturellen Revolution der 1960er Jahre, so auch den völlig veränderten Umgang mit Religion: Für den Grossteil der Bevölkerung unterstehen „"Religion(en)... ganz generell dem Primat der Gesellschaft und des Individuums. Sie haben nicht selbst Ansprüche zu stellen, sondern müssen der Gesellschaft und dem Individuum dienen".“ Dabei wählt der Einzelne zwischen Angeboten religiöser und immer mehr säkularer Anbieter aus, welche zueinander in Konkurrenz stehen. Für den Wettbewerb mit säkularen Anbietern scheinen die Grosskirchen schlecht aufgestellt; die Reformierten werden weithin als uninteressant wahrgenommen. Sie haben „"nicht so sehr mit einem ambivalenten, als vielmehr mit einem fehlenden Image zu kämpfen ... Es bleibt unklar, wofür sie genau stehen.“"
Zusammenfassung des Buchs mit weiterführenden Fragen

Freikirchen: Flexibilität und Festigkeit
Vom grosskirchlichen Milieu der Kirchenverbundenen (Reformierte und Katholiken, etwa 16 Prozent der einheimischen Bevölkerung) hebt sich für die Religionssoziologen das evangelisch-freikirchliche ab (1,6 Prozent). Diesem Milieu haben Jörg Stolz, Olivier Favre und zwei Mitarbeiterinnen eine eigene aufschlussreiche Studie gewidmet. "„Phänomen Freikirchen“" setzt einen Standard. Die Forscher erklären den Erfolg mancher (bei weitem nicht aller) Freikirchen mit zeitgemässen evangelischen Angeboten in einem mit Normen gut strukturierten Milieu -– Angeboten, welche im Wettbewerb mit säkularen Anbietern bestehen.
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Irrende Theologie, zerfallende Kirche
Auf die evangelischen Volkskirchen trifft dies nicht zu. Sie sind "„langweilig liebe Kirchen“", wie Paul Bernhard Rothen, Pfarrer in Hundwil und Autor, in seiner Streitschrift "„Auf Sand gebaut"“ festhält. Er findet die Gründe, „"warum die evangelischen Kirchen zerfallen"“ (Untertitel), in der von Aufklärung und Romantik bestimmten, oft alltagsfernen Theologie, in Widersprüchen und Anpassung an den gesellschaftlichen Mainstream.

Rothen weist eine Grundannahme der liberalen Theologie zurück: "„Es ist nicht so, dass die Menschen von Natur aus geneigt sind, sich der überwältigenden Wahrheit des Universums zu beugen".“ Die von Schleiermacher abhängige akademische Theologie habe für die Kirchen das Fundament der je persönlichen Gottesbeziehung gelegt. „"Das trägt, solange die Kirche sich in einem grundsätzlich freundlichen Umfeld befinden. Sobald mächtige Zeitströmungen das gemeinsame Empfinden und Wollen unterspülen, versinken die Kirchen in einem Strudel unterschiedlichster Ansprüche".“ In zentralen Fragen seien die Kirchenglieder und ihre offiziellen Vertreter uneins. "„Kann ein Verein überleben, in dem man sich nicht einig ist, ob es in ihm um das Handballspiel oder die Bienenzucht gehe?“"

Profilgemeinden sind laut Rothen keine Lösung. "„Statt leidenschaftlich um die rechte Erkenntnis zu ringen, sucht sich jeder eine Gemeinde, die das vertritt, was er schon kennt. Die Spannkraft des Glaubens zerfällt".“ Der Theologe rechnet mit der Möglichkeit, "„dass die evangelischen Kirchen weiter zerfallen und ihren Platz im sozialen Leben der europäischen Völker ganz verlieren"“. Diese würden den Verlust an Vertrauen teuer bezahlen. Drohe einer evangelischen Kirche in der Wohlstandsgesellschaft der Untergang, dann solle sie dies eher geschehen lassen, „"als etwas von ihrem Auftrag und ihrer Botschaft preiszugeben“".

Vier aktuellen Rettungsversuchen (auf Menschen eingehen, Werbekampagnen, stärkerer Apparat, Strukturreformen) erteilt Rothen eine Absage. Auch Fusionen: Sie "„höhlen das aus, was für die evangelischen Kirchen das Kostbarste sein muss: die Liebe zum Nächsten"“. Insgesamt sieht er sie "„nicht in der Lage, sich auf einem tragfähigen, innerlich verpflichtenden Weg eine neue Gestalt zu geben"“. Er fordert mehr Respekt vor der Bibel: "„Nicht Strukturreformen brauchen die evangelischen Kirchen, sondern Gottesfurcht".“ Und:" „Alle müssen selber ein höheres Mass an Verantwortung übernehmen. Alle müssen sich selber üben, das Wort weiterzusagen und dafür Sorge zu tragen, dass sie alles Nötige mit sich dabei haben, um in Zeiten der Not den schmalen Weg der Hoffnung zu finden.“"

Eine schweizerische evangelische Lehre der Kirche!
Woher kommt die Kraft zur Erneuerung? Ein Bändchen, das viel zu reden geben wird, hat der Basler Kirchenratspräsident Lukas Kundert geschrieben. Die Thesen zu einer reformierten „"Schweizer Ekklesiologie"“ (Lehre der Kirche) sind im Zug der Vorarbeiten für die Verfassungsrevision des Kirchenbundes SEK entstanden. Dessen Ratspräsident Gottfried Locher bezeichnet im Geleitwort den „"Vorschlag für die Erneuerung der evangelisch-reformierten Kirche“" als mutig, zeitig und gut reformiert.

Kundert lebt und arbeitet in Basel: „"Was aber ist Kirche... in einer Gesellschaft, die den Schritt aus der konstantinischen Ära in eine nachkonstantinische Zeit gemacht hat? Sie wird... ein in der Welt fremdes Evangelium in diese fremde Welt sprechen".“ Dazu müssen die Reformierten -– so Kundert -– Katholizität ("„Einheit der Christusgläubigen"“) als Wesensmerkmal der Kirche anerkennen und ihr auch klaren Ausdruck geben. Denn "„die wahre Kirche ist ihrem Wesen nach sichtbare Kirche"“.

Von Haus aus Neutestamentler, verbindet Kundert ein vor dem Hintergrund des antiken Familienrechts skizziertes Kirchenverständnis mit neuen kulturwissenschaftlichen Gedanken. In der Antike „"wechselten die Christusgläubigen aus dem Herrschaftsgefüge ihres pater familias unter die Herrschaft des himmlischen Vaters, dessen '‚Kinder'‘ sie über die Zugehörigkeit zum Leib Christi wurden"“. Paulus sei es gelungen, diese Gemeinschaft als eine neue Familie zu formulieren. Von Paul Ricoeur, Axel Honneth und Niklas Luhmann her beschreibt der Basler Kirchenleiter die Kirche als verbindliche Anerkennungsgemeinschaft.

Die Kirche setzt sich „"aus Kirchgemeinden und Regionalkirchen und Weltkirche zusammen“". Sie bedarf -– dieser Dreigliedrigkeit entsprechend –- einer dreigliedrigen Leitung: synodal, kollegial und personal. Kunderts bezugsreiches Plädoyer für eine evangelische Gestalt der Kirche mündet in Überlegungen zur Episkopé (griechisch: kirchliche Leitung, Aufsicht). Auch das Miteinander von Ordinierten, Presbytern und priesterlich tätigen Christinnen und Christen nimmt er als Hinweis auf dreigliedrige Leitung: Den lokalen Kirchgemeindeversammlungen und kantonalen Synoden soll eine schweizerische Synode entsprechen, den örtlichen Kirchenpflegen ein Kollegium von Kirchenleitern, dem ordinierten Amt ein evangelisch-reformiertes Bischofsamt.

 

Pierre Bühler, Käthi La Roche, Frank Mathwig, Marie-Christine Michau, Otto Schäfer, Matthias Dominique Wüthrich (hg. vom SEK, Vorwort von Gottfried Wilhelm Locher):
Rede und Antwort stehen. Glauben nach dem Unservater
TVZ Zürich, 2014, 272 Seiten, 978-3-290-17766-9

Willi Honegger:
Mit seinen Worten Grosses erbitten. Wie Jesus uns beten lehrt
Berchtold Haller Verlag, Bern, 166 Seiten, 978-3-85570-150-6

Niklaus Peter, Marianne Vogel Kopp:
Den Glauben buchstabieren. Ein Lese- und Schaubuch für Gläubige, Ungläubige und Abergläubige
TVZ Zürich, 2014, 64 Seiten, 978-3-290-17791-1

Jörg Stolz, Judith Könemann, Mallory Schneuwly Purdie, Thomas Englberger, Michael Krüggeler:
Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens
TVZ Zürich, 2014, 281 Seiten, 978-3-290-20078-7

Jörg Stolz, Olivier Favre, Emmanuelle Buchard, Caroline Gachet:
Phänomen Freikirchen. Analysen eines wettbewerbsstarken Milieus
Pano Verlag Zürich, 2014, 392 Seiten, 978-3-290-22025-9

Paul Bernhard Rothen:
Auf Sand gebaut. Warum die evangelischen Kirchen zerfallen
LIT-Verlag Wien/Zürich, 2014, 96 Seiten, ISBN 978-3-643-80188-3

Lukas Kundert:
Die evangelisch-reformierte Kirche. Grundlagen für eine Schweizer Ekklesiologie
TVZ Zürich, 2014, 160 Seiten, 978-3-290-17750-8