Auf Distanz zur Religion
Wer sich in der Ich-Gesellschaft von Religion bestimmen lässt, fällt auf oder ab, wird zum Sonderfall. Die seit 1960 herangewachsene Mehrheit der Schweizer Bevölkerung schiebt Glauben an den Rand, manche werfen ihn über Bord. Nun reden Religionssoziologen vom Unglauben. Sie präsentieren Reformierten und Katholiken das Ende der Volkskirche.
Vier "Gestalten des (Un-)Glaubens" unterscheiden die Forscher um Professor Jörg Stolz in der Schweizer Bevölkerung. Ihr Buch "Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft" ist die Spätfrucht einer Studie des Nationalen Forschungsprogramms 58. Der religiöse Wandel seit dem Zweiten Weltkrieg, von anderen als Entchristlichung bezeichnet, wird sozialwissenschaftlich durchleuchtet und auf den Punkt gebracht. "Nie zuvor... musste der Einzelne den Sinn seines Erlebens und Tuns so sehr aus sich selbst und aus den Konsequenzen schöpfen. In diesem Sinn leben wir heute in einer Ich-Gesellschaft."
Vier Typen
Die Schweizer Ichs - im Buch sind die Zugewanderten ausgeklammert - gruppieren die Autoren nach zwei Kriterien: ob überhaupt religiös, ob kirchengebunden oder alternativ spirituell. Dies ergibt vier religiös-soziale Typen. Die Institutionellen, die Alternativen und die Säkularen machen je 11-17 Prozent der Bevölkerung aus, während die Distanzierten mit 57 Prozent die Mehrheit bilden.
Bei näherer Betrachtung zeigen sich bei den Institutionellen zwei Milieus: das Milieu der Protestanten und Katholiken mit fester Bindung an ihre Kirche (sogenannte Etablierte, 16 Prozent) und jenes der Freikirchlichen (1,6 Prozent; analysiert im Buch "Phänomen Freikirchen"). Bei den Alternativen bilden aktive Esoterikerinnen durch ihre Gruppenidentität ein erkennbares frauendominiertes Milieu, bei den Säkularen die Religionsgegner eine militante männerdominierte Szene (je 3 Prozent).
Weichenstellungen und Dammbruch
Die Grafik bildet die religionssoziologisch erhärtete Tatsache ab, dass die Mehrheit zu expliziter Glaubenspraxis, markanten Angeboten und ihren Protagonisten auf Distanz gegangen ist. Mit anderen Worten: Über drei Millionen Schweizerinnen und Schweizer neigen zwar entweder einer Kirche, östlich-alternativer Spiritualität oder dem Agnostizismus/Atheismus zu, bleiben aber im Unbestimmten. Dass das Buch dies beleuchtet, macht es allein schon lesenswert.
Die Weichen zur Distanz wurden im Aufbruch zum Wohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg gestellt. Doch blieb bei allen konfessionellen und sozialen Kontroversen, die seit Napoleons Zeit ausgetragen wurden, "die Schweizer Gesellschaft bis zum Ende der 1950er Jahre der Auffassung, dass sie selbst eine christliche Gesellschaft sei". Dann aber brach der Konsens: Die 1960er Jahre mit der Rebellion der Studenten, der "Magical Mystery Tour" der Beatles, dem Auftreten von Gurus und den Parolen sexueller Freiheit bedeuteten eine "kulturelle Revolution". Sie führte zur Ich-Gesellschaft mit unüberschaubar vielen Kombinationen von Anschauungen, die unterschiedlich stark gehegt und praktiziert werden.
Deutungshoheit passé
Das Team von Lausanner Religionssoziologen um Jörg Stolz und Forschern des katholischen St. Galler Pastoralsoziologischen Instituts hat ein gut lesbares Buch mit zahlreichen Interview-Zitaten und pointierten Beobachtungen verfasst. Die Aussensicht sollte in den Grosskirchen diskutiert werden.
Die Autoren zeigen auf, wie weit diese die Deutungshoheit verloren haben: Fünf von sechs Schweizerinnen und Schweizern bestimmen selbst, was Religion ihnen (nicht) bedeutet. Ethik löst sich von Religion: "Die meisten Werte, die Distanzierten wichtig sind, scheinen ihnen selbstverständlich und nicht unbedingt einer religiösen Begründung bedürftig". Die Einschätzung der Religion hat sich durch die Revolution völlig verändert: Für den Grossteil der Bevölkerung unterstehen "Religion(en)... ganz generell dem Primat der Gesellschaft und des Individuums. Sie haben nicht selbst Ansprüche zu stellen, sondern müssen der Gesellschaft und dem Individuum dienen."
Säkulare Anbieter trumpfen auf
Zum Verständnis des Gesamtprozesses diskutieren die Verfasser die gängigen religionssoziologischen Ansätze (Säkularisierung, Individualisierung, Spiritualisierung, religiöser Markt). Auf deren Mängel reagieren sie mit einer eigenen Theorie "religiös-säkularer Konkurrenz": Wettbewerb sowohl zwischen religiösen und säkularen Anbietern als auch zwischen verschiedenen religiösen Anbietern. Gemäss der Theorie, die mit einem Abriss der letzten 200 Jahre unterlegt wird, konkurrieren religiöse und nicht-religiöse Anbieter um Einfluss, Macht und Deutungshoheit in der Gesellschaft, um Macht in Gruppen und um die individuelle Nachfrage (siehe Grafik unten).
Die Einzelnen versuchen meist, "diejenige Kombination von (religiösen und/oder säkularen) Gütern auszuwählen, mit deren Hilfe sie einen möglichst hohen Nutzen erreichen können". - Da meldet sich beim Leser die Frage, ob die Religionskonsumenten so rational agieren, wie es die Sozialwissenschaft wissen will, etwa in Zeiten der Angst, des gesellschaftlichen Unmuts, der Polarisierung...
Was Distanzierte (nicht) glauben
Die "Distanzierten" finden sich unter den Reformierte gehäuft. Was glauben sie? Nicht nichts - aber es spielt keine bestimmende Rolle. Sie glauben, dass es "irgendetwas Höheres" gibt oder "irgendeine Energie", denken dem Sinn des Lebens nach oder der Reinkarnation. Sie "sind überzeugt, an etwas zu glauben - allerdings fällt es ihnen schwer zu sagen, woran". 72 Prozent geben an, mindestens ein- bis zweimal pro Jahr zu beten.
Zu den Kirchen spüren die Distanzierten "immer noch einen Rest an Verbundenheit, der sie am Austritt hindert". Gegenüber den ausgeprägten Formen von Religiosität und Areligiosität sehen sie sich als "normal religiöse" Leute; die anderen sind für sie Fundis und Fanatiker, Eiferer, Irrende und Spinner. Mit den meisten reformierten Kirchgängern sind sie der Meinung, man könne ohne Kirchgang und alltägliche christliche Praxis Christ sein. Mit dem Grad der Bildung nimmt statistisch die Distanz zu jeglicher Religiosität zu; Distanziert-Säkulare glauben normalerweise nicht an ein Leben nach dem Tod.
Reformierte: besser angepasst, uninteressant
Dies hat tiefgehende Folgen fürs Image der beiden Grosskirchen. Auf die Frage, ob sie etwas Nützliches bieten, wird am häufigsten geantwortet: "Für mich nicht, aber für andere". Damit würden die Kirchen wie Hilfswerke wahrgenommen und anerkannt, urteilen die Autoren. Die Fragen nach dem Image der beiden Kirchen bestätigen Bekanntes: An der katholischen Sexuallehre, dem Machtanspruch und der Männer-Hierarchie stossen sich viele. "Vor allem die katholischen Geistlichen haben einen extremen Autoritätsverlust hinnehmen müssen".
Die Reformierten werden ganz anders wahrgenommen: Sie haben "nicht so sehr mit einem ambivalenten, als vielmehr mit einem fehlenden Image zu kämpfen". Die Befragung ergab insgesamt den Eindruck, dass sie "keinen Erfolg haben, Personen für ihre Angebote zu interessieren". Und: "Es wird zwar deutlich, dass sie nicht so sind wie die Katholiken, aber es bleibt unklar, wofür sie genau stehen". - Dass die Religionssoziologen die mit ihrer Kirche verbundenen Reformierten wie die kirchlich gesinnten Katholiken in das eine Milieu der Etablierten zusammenfassen, zeigt die Grenze ihres Ansatzes - und die prägende Kraft des säkularen Mainstreams.
Religionskritik im Aufwind
Laut den ausgewerteten Studien (Umfragen vor 2010 gemacht!) hat sich in der Schweiz insgesamt die Annahme einer "fundamentalen Gleichheit der Religionen" durchgesetzt; damit relativiere sich der Wahrheitsgehalt jeder Religion, auch der angestammten. Und: "Die Individuen beginnen, 'Religion an sich' im Vergleich zu anderen sozialen Phänomenen und Institutionen als 'gut' oder 'schlecht' zu bewerten". Gemäss den im Buch ausgewerteten Erhebungen nimmt im Land nicht Religiosität, sondern Religionskritik stark zu. "85 Prozent der Befragten finden, Religionen führten eher zu Konflikten als zum Frieden" - ohne deswegen Religion insgesamt abzulehnen (Ausnahme: die militanten Religionsgegner). Zwei Drittel der Distanzierten sehen die Christen positiv, die Hälfte die Buddhisten.
...und die nächste Generation?
Unverblümt bilanzieren die Autoren, "dass religiöser Glaube mit einer Negativbilanz an die nächste Generation weitergegeben wird. Die Generation der Älteren hält dies für einen sehr viel wichtigeren Wert als die Jungen". Die seit den 1960er Jahren aufgekommenen neuen Werte - etwa Individualismus, Fantasie, Kreativität - haben für die aus Distanzierten und Säkularen bestehende Mehrheit der Bevölkerung, welche die alten Werte ablehnt, nichts mit Glauben zu tun. (Die Alternativen hingegen begründen das Streben nach einem "noch authentischeren Ich" mit ihrer Spiritualität.) Die Etablierten (Landeskirchler), so die Autoren, "finden sich meist mit der Zerstörung der alten Werte in der Gesellschaft ab, sind aber weiterhin der Meinung, dass ihre eigenen Werte auf ihrem Glauben aufbauen und dass die Gesellschaft Religion benötigt, um insbesondere die konstanten Werte - Pflichtbewusstsein, Erfolgsstreben, Ehrlichkeit, gute Manieren usw. - aufrechtzuerhalten."
Humanistisch ist nicht genug
Die Frage ist, wie weit diese Meinung nach der Zerstörung der alten Werte noch trägt, wie sie gesellschaftlich zur Geltung gebracht werden kann, falls das Milieu im Gang der Generationen unaufhörlich schrumpfen sollte. Der britische Theologe John Milbank, Vordenker der "Radical Orthodoxoy" genannten Schule, skizzierte kürzlich in einem Vortrag in Riehen ein bedrohliches Szenario: Mit Humanismus allein, ohne die religiöse Dimension, könne die Menschlichkeit im 21. Jahrhundert nicht bewahrt werden. Dass ein durchwegs säkularer Staat die Religionsfreiheit auf Dauer gewährleistet und Religionsgemeinschaften eigene Regeln zugesteht, sei nach den jüngsten Entwicklungen in England nicht sicher. Denn wenn der Sinn für Religion verloren gehe, werde ihre Bedeutung fürs Gemeinwohl nicht mehr gesehen.
Rücken Gläubige zusammen?
Wenn viele Seiten des aufschlussreichen Buches von Ausmass und Vielfalt des Unglaubens handeln, gibt es doch Zukunftsperspektiven für jene her, die auf Glauben setzen. Bekanntlich dynamisiert Wettbewerb die Szene. Säkulare Konkurrenz kann auch dazu führen, "dass die besonders intensiv Religiösen unter den Reformierten und den Katholiken sowie die Mitglieder der evangelischen Freikirchen manchmal zusammenrücken, um gegen den gemeinsamen 'Feind' der säkularen Konsumgesellschaft zu kämpfen. Hierdurch werden vormals wichtige Differenzen zwischen diesen Gemeinschaften verwischt".
Säkularität contra Dschihadisten
Das Buch wurde im Sommer 2013 abgeschlossen, die Umfragen und Interviews spiegeln das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Wie stark hat sich die religiöse Atmosphäre seither gewandelt? Dreizehn Jahre nach dem 11. September und fünf Jahre nach der Minarett-Abstimmung titelt ein französisches Magazin "Le djihad à nos portes". Die Dschihadisten fordern mit ihrer Kampfansage an Säkularität die westlichen Gesellschaften in ihrem Grundverständnis heraus.
Wie reagiert darauf die Mehrheit der Eingesessenen, die sich in religiöser Unentschiedenheit eingerichtet hat? Lässt sie den Gedanken zu, dass eine religiös indifferente oder offen säkulare Grundhaltung für viele nicht lebbar ist, weil sie überweltliche Realitäten (welche Menschen aus nichtchristlichen Kulturen nicht so leicht verdrängen können wie Westeuropäer) ausblendet und so in eine umfassende Haltlosigkeit zu führen scheint? Oder setzen die säkular gestimmten Eliten des Landes ihren diesseitigen Horizont absolut - obwohl Westeuropa auf allen Seiten von sich religiös artikulierenden Kulturen umgeben ist?
Gleichgültigkeit in stürmischen Zeiten
Kehrt sich unter diesen Umständen die Mehrheit der Distanzierten von der (oben angeführten) höchst oberflächlichen Meinung ab, dass man alle Religionen über den gleichen Leisten schlagen kann? Wird man unbeirrt daran festhalten, dass ihre Wahrheitsansprüche etwa gleich zu bewerten sind und miteinander abgehakt werden können? Oder der christlichen Weltsicht neu Aufmerksamkeit geben?
Der anglikanische Alt-Bischof Michael Nazir Ali hat bemerkt, dass säkulare Werte wie Toleranz und Selbstbestimmung nicht das friedliche Nebeneinander der multikulturellen Gesellschaft, sondern die konfliktträchtige Segregation gefördert haben. Auch wenn wir Zustände wie in Grossbritannien hierzulande nicht kennen: Der anderen Seite der Globalisierungs-Medaille können wir uns nicht entziehen. Die religiöse Distanziertheit, die auf der Wohlstandsinsel Schweiz so gut gediehen ist, wird mit ihr von Stürmen nicht verschont.
Jörg Stolz, Judith Könemann, Mallory Schneuwly Purdie, Thomas Englberger, Michael Krüggeler:
Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft, Vier Gestalten des (Un-)Glaubens
Edition NZN bei TVZ (Beiträge zur Pastoralsoziologie, SPI-Reihe, 16)
Zürich, 2014, ISBN 978-3-290-20078-7