Evangelische Einheit: Die Freude am Miteinander
Wie lässt sich das Jubiläum der Reformation feiern ohne ernsthafte Schritte zu Evangelischer Einheit? Die Zersplitterung der Evangelischen schadet ihrem Kirche-Sein und dem öffentlichen Auftritt. Reformierte und Freikirchler haben viele gute Gründe, aufeinander zuzugehen und die Zusammenarbeit zu suchen. Das Forum Rätia "Evangelische Einheit" am 29. August 2014 in Chur zeigte die Spaltpilze seit 1517 auf. Zugleich machte der Abend Mut. Im Austausch wurde deutlich, wie viel Landes- und Freikirchen gewinnen, wenn sie am Ort zusammen beten und tätig werden.
Evangelische Christen haben "aufgrund ihrer reformatorischen Herkunft ein Bewusstsein der Abgrenzung". Dr. Walter Dürr, Direktor des Studienzentrums für Glaube und Gesellschaft an der Uni Fribourg, nahm in seinem Vortrag eine These des Landeskirchen-Forums auf. Dies wirft einen Schatten auf das Jubiläum. "Werden wir feiern, dass wir uns getrennt haben? Dass wir speziell sind? Oder dass das Evangelium durchgebrochen ist"? Unverbunden und einander widersprechend, werden Kirchen nach Dürrs Beobachtung in der Öffentlichkeit nicht gehört; "durch Uneinheit neutralisieren sie sich gegenseitig".
Wo der Heilige Geist Raum findet
Dass man sich auf den Weg machen und verständigen kann, haben der Berner Synodalrat und fünf landeskirchliche Gemeinschaften im Kanton bewiesen: In einer Gemeinsamen Erklärung im November 2013 hielten sie Gemeinsames und Trennendes fest und verpflichteten sich zum ehrlichen, konstruktiven Miteinander. Darauf verwies die Bündner Kirchenrätin Barbara Hirsbrunner in ihrem Grusswort am Forum Rätia. Sie erinnerte daran, dass die Reformierten, eine von über 400 Konfessionen, wenige Prozent der weltweiten Christenheit stellen. Nicht die Grösse der Kirchen sei entscheidend, sondern das Wirken des Heiligen Geistes in ihnen. Im verbindlichen ökumenischen Zusammenwirken gehe es um Einheit in Vielfalt - "nicht dass alle dasselbe sagen, aber dass sie dasselbe meinen".
Höflich - oder vertraut?
Edi und Agnes Wäfler vom Forum Rätia, die durch den Abend führten, nannten einleitend vier Phasen der Zusammenarbeit als Gradmesser für die Einheit: In Phase 1, von Konkurrenz geprägt, werden nichtssagende Höflichkeiten ausgetauscht; sie ist schlicht peinlich. In Phase 2 herrscht Waffenstillstand, ein langweiliges Nebeneinander. In Phase 3 wächst Vertrauen, langsam wirds interessant. "In Phase 4 sind wir echte Freunde, wir reden gut übereinander, stärken uns gegenseitig den Rücken, segnen einander. Das ist aufregend und abenteuerlich - die 'Vollmacht der Freunde'."
Trennung - ein Skandal
Der Abend stand unter dem Thema "Evangelische Einheit?! was eint. was reibt. was bleibt". Grundlegend ist das Gebet Jesu fürs Eins-Sein seiner Nachfolger (Johannes 17). Christen dürften sich daher "nie an den Skandal der Trennung gewöhnen", sagte Walter Dürr. Epheser 4,4-6 gebe einen steilen Weg vor; die ersten Christen hätten schon um Einheit gerungen. Das Apostolikum bezeugt ihren Glauben an die eine "heilige, katholische (allgemeine), apostolische Kirche". Er ist laut Dürr in den Hintergrund getreten: "Wir denken immer an meine Kirche. Die universale Kirche, im Kopf bejaht, hat praktisch keine Auswirkungen".
Einheit und Entfremdung
Die Freikirchen sind als eine Entfaltung der radikalen Reformation zu sehen. Dürr skizzierte die komplexen Beziehungen von Reformierten und Freikirchlern in der Spur von Prof. Matthias Zeindler. Dieser hatte an der Berner LKF-Tagung über Evangelische Einheit am 20. Juni die vier 'soli' der Reformation als gemeinsame Grundlage herausgestellt: Allein Christus, allein die Schrift, allein durch Gnade, allein durch Glauben. Diesen Grundsätzen verpflichtet, gingen Lutheraner und Zwinglianer doch getrennte Wege und beide bekämpften Täufer und Spiritualisten. Dürr zitierte den emeritierten Berner Neutestamentler Ulrich Luz: "Die Erblast des Protestantismus ist, dass er aus einer Spaltung entstand und dass aus ihm immer wieder neue Spaltungen entstanden".
Descartes' Spaltpilz
Die "enorme Zersplitterung" der Evangelischen erfolgte jedoch nicht nur durch Lehrstreitigkeiten. René Descartes Grundsatz cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich) erwies seine Spreng- und Spaltkraft in der Aufklärung und den Revolutionen, die die Moderne heraufführten. "Wir folgen Descartes in der Konzentration auf das Trennende". Davon nahm Walter Dürr die Evangelikalen nicht aus. Wie liberale Theologen hätten sie die Moderne als Voraussetzung akzeptiert. "Der Krach zwischen Evangelikalen und Liberalen ist eigentlich ein Krach unter Brüdern". Im Alltag der Kirchen habe das cartesianische cogito zu Rechthaberei geführt: "Ich verfüge über die Wahrheit - also bist du sicher falsch. Wir sind die wahre Kirche - also könnt ihr es gar nicht sein. Ich habe den Heiligen Geist - also bist du geist- und herzlos".
Postmoderne als Chance
Die totalitären Auswüchse dieser Denkmuster sind durch die Postmoderne scharf kritisiert worden. Sie bietet nach Meinung Dürrs die Chance, die eigene Erkenntnis und das eigene Kirche-Sein als Stückwerk zu sehen. "Deshalb brauchen wir die Perspektive des Anderen": die Landeskirche jene der Freikirchen und umgekehrt. Wie Zeindler erinnerte Dürr an Jesu Gleichnis vom Unkraut im Weizen: "Es ist nicht unser Geschäft, die reine Gemeinde zu bauen". Die Moderne habe die Frage gestellt: Wo ist die wahre Kirche? - und jeder habe sie bei sich gesehen. Die Postmoderne stösst laut Dürr eine neue Bescheidenheit an mit der Frage: Wie kann Kirche wahr werden?
Reichtum Gottes
Für die Arbeit an der Einheit in versöhnter Vielfalt ist die Dreieinigkeit Gottes der Schlüssel. Der Bieler Theologe äusserte in Chur die Hoffnung, dass der Heilige Geist alle Kirchen entzündet. "Es gibt zwar verschiedene Ausdrucksformen, aber nur einen Leib Christi". Im Gegensatz zur Schweiz, wo der Hausbesitzer Hecken hochzieht und der Bauer seine Weide einzäunt, gräbt der Australier in der Mitte seines Landes einen Brunnen, um die Kühe zu halten. Laut Dürr ist es Zeit, dass Christen sich "durch die Mitte definieren, durch das lebendige Wasser". Und bei benachbarten Gemeinden und Kirchen Ergänzung suchen.
Das Miteinander erfreut und stärkt
In Chur und anderen Orten Graubündens, wo sich Freikirchen etabliert haben, geschieht dies zunehmend. In den Gruppengesprächen wurden Hindernisse und Blockaden angesprochen, doch überwog die Freude über das Miteinander auf der Grundlage der Evangelischen Allianz: in persönlichen Beziehungen, durch ehrliche Kommunikation und Wertschätzung. Dabei schwinden (Vor-)Urteile und Verletzungen können besprochen werden. Gemeinsames Singen und Beten, Berggottesdienste und Kinderanlässe stärken die Einheit.
Notizen von den Gesprächsrunden
Für den grössten Hunger da
Der reformierte Dekan Thomas Gottschall und der Churer ICF-Leiter Markus Bächler legten in Inputs zum Wort Jesu an seine Jünger "Gebt ihr ihnen zu essen"! (Matthäus 14,16) dar, was ihre Kirche den Menschen bietet. Im Kontrast der Beiträge wurde deutlich, dass Landes- und Freikirchen einander ergänzen. Bächler fragte nach dem grössten Hunger und antwortete, die Gesellschaft in der wohlhabenden Schweiz sei unterernährt - aus Mangel an Liebe. "Die Botschaft der Liebe an die Frau, an den Mann zu bringen: das ist unser Job, ob als Freikirche oder Landeskirche". Jesus habe den Geschmack der Leute getroffen, als er die Jünger Brot und Fische verteilen liess. ICF Chur fördert laut Bächler Liebe zu Gott und den Menschen, Liebe zum Leben und zur Kirche. Mit dem "E-fun-gelium" dürfe die Gemeinde der fröhlichste Ort in der der Stadt sein. Der ICF-Leiter riet wegzukommen vom "verklärten Bild der heiligen christlichen Gemeinschaft, in der alles funktioniert", und ein befreiendes Klima der Gnade zu kultivieren. "Da kann die Liebe pulsieren".
Erfahrungsschatz und öffentliche Präsenz
Thomas Gottschall schilderte seine Kirche als betagte Dame, geprägt nicht allein durch die Anfänge im unruhigen 16. Jahrhundert, sondern auch durch Glaubenskriege, Aufklärung und Pietismus und die tiefen Umbrüche nach 1798. "Wir sind als evangelische Kirche basisdemokratisch". Aufs Arbeiterelend habe die Kirche mit der Sonntagschule reagiert, in der Arbeiterkinder lesen lernten. Durch all dies sei die Kirche hindurchgegangen; so bewahre sie den Erfahrungsschatz von Jahrhunderten helvetischer Geschichte auf.
Heute sind die Bündner Reformierten laut Gottschall für den Einzelnen kirche im Dorf, für den Staat ein wichtiger religiöser Partner und für die Gesellschaft die Volkskirche: bei Übergängen im Leben immer noch gefragt und mit den Festen des Kirchenjahrs präsent. Zwar lebten sie mit unauflösbaren Spannungen, doch setzten sie sich "der Selbstkritik und der Befragbarkeit" aus. So hofften sie glaubwürdig zu sein. Der Dekan las aus der Präambel der Bündner Kirchenverfassung, die von der weltweiten Kirche spricht. "Wir wissen und glauben, dass wir letztlich Teil sind von etwas viel Grösserem". Er selbst sei "zweisprachig", er kenne Landes- und Freikirche aus eigener Erfahrung, sagte Gottschall, der 23 Jahre in Trimmis als Pfarrer gewirkt hat. In konfessionell gemischten Dörfern gehöre sich das Miteinander aus seelsorgerlichen Gründen: damit in Familien nicht Risse und Spaltungen entstehen.