Wo ist Gott in der Stadt?

Die alten Gestalten urbaner Kirche sind vergangen, doch auch in der Stadt suchen Menschen, was sich dem Zugriff entzieht. Wie kann Kirche im säkularen Umfeld Strahlkraft gewinnen? Im Sommer ist an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich ein Zentrum für Kirchenentwicklung (ZKE) gegründet worden. Es startete mit der Fachtagung „"Urbanität und Religiosität"“, die am 28. August in den Räumen des Theologischen Seminars beim Grossmünster stattfand.

Das Zentrum will "„unaufgeregt beitragen zur Kirchenentwicklung in urbanen Räumen"“, sagte Prof. Thomas Schlag, der dem Leitungsteam vorsteht. Christina Aus der Au, theologische Geschäftsführererin des ZKE, bezeichnete das Zentrum als Scharnierstelle zwischen Theologie und Kirche. Religiosität sei in ihrer Vielschichtigkeit wahrzunehmen. Das Neue, das interessiere, wolle man nicht losgelöst von der Bindung an Traditionen, an die bisherige Gestalt der Kirche, suchen.

"Megapolis CH": Hans Strub

Megapolis -– oder Stadtland Schweiz?
Das Symposium fand zu Ehren von Pfr. Hans Strub (Bild oben) statt, der in den letzten 23 Jahren im Konkordat der Deutschschweizer reformierten Kirchen die Aus- und Weiterbildung der Pfarrer geleitet hatte. Strub stellte das Bild vor Augen, das sich Reisenden nach dem Start vom Flughafen Zürich bietet: die Schweiz als ein zusammenhängendes Siedlungsgebiet: „"Zwischen Colmar und Milano wohnen etwa 13 Millionen Menschen: Die Schweiz ist die 27. Megapolis der Welt".“ Das habe sich in den hiesigen Kirchen noch nicht herumgesprochen. Die Verflechtung stelle „"neue Herausforderungen an das Selbst- und Handlungsverständnis der Kirchen"“. Urbanität werde von den Medien mitbeeinflusst, sagte Strub weiter -– und sie werde von Kräften, die sie freigesetzt habe, intensiv bedroht.

Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie an der Universität Zürich und Mitglied der ZKE-Leitung, skizzierte die Entfremdung zwischen Kirche und Stadt, die nach dem engen Miteinander im 16. Jahrhundert (süddeutsche Städtereformation) stattfand. Gibt es heute, so fragte er, ein" „Stadtland Schweiz mit der Sehnsucht nach der Kirche im Dorf? Einen Dschungel von Religiosität, den wir kaum noch fassen können als Reformierte"?“

Urbaner Dschungel
Die Zürcher Kirchenrätin Irene Gysel, die für den erkrankten Kirchenratspräsidenten Ruedi Reich sprach, beschrieb die Anonymität der Stadt im Kontrast zum Dorf, „"wo die andern wissen, wer man ist, und es einem zurückspiegeln"“. Städter seien frei, sich selbst neu zu erfinden –- sie könnten sich auch im Dschungel verlieren. Urbanität für jedermann bietet laut Gysel nun das Internet; da könne man sich als ‚'Avatar‘' neu erfinden. Anderseits würden Kinder im Internet bedroht und unter Druck gesetzt. „"Wir lassen sie im Dschungel allein".“

Selbsterkenntnis sei nach reformiertem Verständnis untrennbar mit Gotteserkenntnis verbunden. Diese schaffe Identität, hielt Irene Gysel fest und fragte: "„Kümmert man sich in der urbanen Kirche nur noch um Urbanität und nicht mehr um Gotteserkenntnis"?“ Die Kirchenrätin gab sich überzeugt, dass Kirche auch künftig Stadt prägen werde. Denn die Menschen suchten eine innere und äussere Heimat.

Matthias Krieg, Leiter der Erwachsenenbildung der Zürcher Landeskirche, dekonstruierte den Begriff '‚Volkskirche‘': Sie „"stammt nicht vom Heiland, sondern ist ein Unikum der deutschen Sprache, der Romantik entsprungen"“. Volkskirche sei nach dem Ende des Ancien Régime 1803, im Zuge der Säkularisierung, von Schleiermacher erfunden worden und nie mehr als eine romantische Utopie gewesen. Krieg wertete die Formulierung der neuen Zürcher Kirchenordnung, wonach die Landeskirche ihren „"Dienst in Offenheit gegenüber der ganzen Gesellschaft leistet"“, als Hommage an die (nicht mehr existierende) Volkskirche.

Kirche neu denken
Isabelle Grellier, Professorin für praktische Theologie in Strassburg, sieht die Kirchen vor der Herausforderung, ihre Situation von Grund auf neu zu denken. Kirche sei als Ort, wo das Evangelium unter die Leute kommt, zuerst Ereignis, dann Institution. "„Die Kirche darf nicht vergessen, dass sie ein Instrument für das Wort ist".“ Die Theologin plädierte dafür, die Wahrheit nicht einzuschliessen und die Verkündigung vor Beliebigkeit und anderseits vor Verengungen zu bewahren. Einsame in der Stadt sollten Solidarität spüren und unter die Räder Gekommene sich entfalten können. Die Kirche habe Grenzen zu überschreiten und Menschen Beziehung anzubieten.

Laut Grellier ist die "„Wiederverzauberung der Welt"“ in den Städten im Gang -– ein Challenge für den Protestantismus, der zu ihrer Entsakralisierung beitrug. Die Kirche habe einen „"neuen Umgang mit dem Heiligen zu finden"“, bei dem der Fluss des Alltags durchbrochen werde.

In einer kurzen Diskussion kamen der Wettbewerb um Sichtbarkeit in der Stadt zur Sprache, und Thesen wie jene der Megapolis Schweiz wurden in Frage gestellt. Thomas Schaufelberger, Nachfolger von Hans Strub, sprach die Binsenwahrheit aus, dass es ohne Beziehung zu Menschen, namentlich zu Jugendlichen, keine nachhaltige Gemeindeentwicklung gibt.

"Die Stadt soll Gott verherrlichen"“
Die Veranstalter hatten neben Grellier auch den Holländer Henk de Roest (Uni Leiden) und die Chicagoer Theologen David Frenchak und Carol Ann McGibbon eingeladen. Sie trainieren im Auftrag von 12 Ausbildungsstätten, die das Seminary Consortium for Urban Pastoral Education (SCUPE) bilden, Theologen für Stadtarbeit: „"Unser Klassenzimmer ist die Stadt. Wir lernen von der Stadt und mit der Stadt".“ Es gehe darum, "„Theologie im öffentlichem Raum zu tun"“, sagte Frenchak. „"Theologie ist ein Akt"!“ Die Kirche sei berufen, die Stadt -– als Teil der Schöpfung Gottes –- dahin zu führen, dass sie Gott verherrlicht.

Die Voraussetzung für Transformation sei Hoffnung, sagte Frenchak im Rückgriff auf Paulo Freire. Es gehe darum, Gelegenheiten für Hoffnung zu schaffen. Er plädierte für Leiter, die Change einleiten. Bisher konzentrierten sich Pfarrer in der Regel darauf, das Bestehende zu managen. In der Ausbildung müssten angehende Theologen die Komfortzone verlassen, in die urbane Kultur eintauchen und dort zu lernen beginnen, wo sie sich fremd fühlten, wo es ungemütlich sei. Es geht darum, so Frenchak, dass Theologen die urbane Realität „"mit den Augen Gottes sehen"“, mit den Menschen der Stadt arbeiten und prophetisch darauf hinwirken, „"dass alle Aspekte der Stadt Gott verherrlichen"“.

Parole: überleben und –- wachsen
Henk de Roest beschrieb den Niedergang der Reformierten in Amsterdam im Zug der Entkirchlichung, als der Glaube vieler unmerklich verdampfte. Die Negativspirale findet sich in ganz Europa: weniger Kirchgänger, sinkende Anziehungskraft, weniger ehrenamtlich Mitwirkende, weniger Mittel, weniger Werbungskräfte -– noch weniger Kirchgänger. Seit 2005 haben die einheimischen Gemeinden neue Formen kirchlicher Präsenz gewagt, neben den grellen Farben der Migrationskirchen.

Die Reformierten setzen im Sinne missionaler Konzepte auf ganz unterschiedliche Gestalten von Kirche, getragen von engagierten Kerngruppen; auch Neugründungen in neuen Wohnsiedlungen gehören dazu. Ein Theologe wurde als Missionspastor berufen. Henk de Roest plädierte dafür, Nonkonformisten hochzuschätzen und einzubinden. „"Tiefgreifende Umorientierung kann geschehen, wenn man dem Sterben rechtzeitig ins Auge sieht".“ In den kleinen Gemeinden sei man flexibler, „"fast jeder trägt Verantwortung"“. Man lebe mit der Parole: überleben und wachsen. „"Wir glauben fünf Jahre nach der Wende, dass ein neuer Elan entstanden ist".“

Die Gemeinde sei zurückgeworfen auf theologische Grundfragen; ihre Kräfte blieben beschränkt. Doch „"Grenzüberschreitungen eröffnen ein neues Repertoire"“. Carol Ann McGibbon von SCUPE ergänzte in der Diskussion, dass Gemeinschaften von ihrem Potenzial, nicht von ihren Nöten und Bedürfnissen her zu sehen sind. Ihr Kollege Frenchak sprach auch aus, dass sich das Böse in der Stadt manifestiert, die Mächte und Gewalten von Epheser 6. „"Verherrlichen Städte Gott? Nein. Aber darauf hat die Kirche hinzuarbeiten: die Systeme der Stadt zu transformieren, so dass Hoffnung entsteht".“ Dass die Kirche oft Opfer und nicht Agent der Transformation ist, mochte er nicht in Abrede stellen. Bewusst senden die Chicagoer ihre Studenten in Gemeinden, die den Turnaround geschafft haben.

Vier Ebenen
Nach den Ateliers fanden sich die 50 Teilnehmenden nochmals im Lehrsaal ein. Hans Strub nannte vier Ebenen kirchlicher Tätigkeit, denen gleiche Wertigkeit zukommen sollte: territorial, kasual, occasional und medial. Auf allen Ebenen gehe es um koinonia, diakonia, leiturgia und martyria, doch je mit Akzent auf einer Dimension. Die Stadt sei ein von Verdichtung gekennzeichneter Lebensraum. „"Kirche sollte Hoffnung und Gewissheit verdichten".“

Thomas Schlag nannte abschliessend die Polaritäten, in denen das Zürcher ZKE arbeiten will, auch die Spannung von unsichtbarer und sichtbarer Kirche. Der urbane Raum sei nicht nur an sein Humankapital, sondern auch ans '‚faith capital'‘ zu erinnern. Man wolle am ZKE auch die Qualität der kirchgemeindlichen Arbeit erforschen.

Homepage des ZKE
SCUPE Chicago