Christliche Schweiz?

Die Schweiz bietet ihren Einwohnern, was kaum ein Land kann. Dabei stellen die einen in Frage, was das Christentum und seine Gläubigen zur Erfolgsgeschichte beigetragen haben. Andere fragen, wie sie weitergehen kann, wenn säkulare Gesellschaft und Staat sich von christlichen Grundlagen distanzieren. Die Forderung wird laut, die Kirchen aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Wie weiter?

Die EVP machte an ihrer Bettagskonferenz am 18. September 2010 zum Thema "„Wie christlich ist die Schweiz"?“ die Spannung zwischen religiöser Prägung und säkularem Gehabe deutlich. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln sprachen sich die Referenten für eine politisch präsente und wirkende Kirche aus –- und dass Staat und Gesellschaft sich von ihr kritisieren lassen.

Mit Jeff Fountain, der über die geistigen Grundlagen Europas sprach, öffnete die EVP die Linse weit, um dann wieder auf die kleinstaatlichen Schweizer Verhältnisse zu fokussieren. Der gebürtige Neuseeländer, Leiter des „"Schuman Centre for European Studies"“ der University of the Nations in den Niederlanden, stellte die christliche Beiträge zur Identität des Kontinents eindringlich vor Augen. „"Warum sprechen wir von der Heiligkeit und Würde des menschlichen Lebens? Worauf gründen wir unser Verständnis der Menschenrechte?“

Missionare gaben Europa seine Identität
Mit den Zehn Geboten und dem von visionären, kühnen und unbeirrbaren Nachfolgern Jesu vermittelten Christentum sei Europa im ersten Jahrtausend der christlichen Zeitrechnung erst ein eigenständiger Kontinent geworden, sagte Fountain pointiert. Er wand den irischen Mönchen und den Märtyrern der thebäischen Legion einen feurigen Kranz.

Europas christliche Prägung (z.B. Gleichheit, Fürsorge für die Schwachen) tritt im Gegensatz zum Kastendenken der Hindus und dem sozialdarwinistischen ‚'survival of the fittest‘' hervor. Auch die Hoffnung auf ein besseres Morgen -– dass Zeit nicht endloser Kreislauf, sondern Geschichte mit Ziel ist –- sei der christlichen Botschaft zu verdanken, betonte Fountain. Sie habe sich unter den heidnischen Völkern der europäischen Halbinsel verbreitet und die Kultur verwandelt. Die Grundlage für eine gemeinsame Lebensweise sei gelegt worden, mit grossen regionalen Unterschieden.

"Wahres Christentum ist immer radikal“"
Wo aber ist die kulturprägende Kraft des Evangeliums heute geblieben? „"Ein reines Christentum hat immer eine fundamentale Veränderung gefordert. Es richtet sich an das menschliche Herz. Wahres Christentum war damals und ist heute radikal".“ Die Geschichte von Jesus habe wie keine andere Europa und die Schweiz geprägt. „"Warum sollte sie dies nicht auch in Zukunft tun"?“

Fountain kritisierte, dass Lehrpläne dem überragenden Einfluss der Bibel auf unsere Kultur nicht mehr Rechnung tragen. „"Wir brauchen populäre und akademische Bücher, die den Einfluss der Bibel auf Kunst und andere Lebensbereiche aufzeigen".“ In Caux oberhalb von Montreux habe Frank Buchman nach der Verwüstung Europas in zwei Weltkriegen Adenauer und Schuman zusammengebracht. Die beiden Staatsmänner waren überzeugt, dass Demokratie auf christlichen Grundlagen bestehen müsse und andernfalls zu einer Tyrannei der Mehrheit entarten würde.

Das Podium mit Thomas Schlag, Philippe Gonzalez, Maja Ingold, Claudia Bandixen und Jeff Fountain.

"Die Schweiz -– ein religös pluralistisches Land"“
Ganz anders ging der Lausanner Religionssoziologe Philippe Gonzalez (im Bild 2. von rechts, zwischen EVP-Nationalrätin Maja Ingold und Prof. Thomas Schlag) an das Thema heran. Er stellte der christlichen Prägung des Landes den aktuellen religiösen Pluralismus gegenüber. Zum einen hielt er die demografischen Trends fest: Der Anteil der Christen an der Bevölkerung sinkt weiter, von 88 Prozent (1990) gegen 70 Prozent. Vitale kleine Kirchen könnten den Niedergang der Landeskirchen nicht kompensieren, sagte Gonzalez. Und: praktizierende Christen (noch rund 15%) geraten gegenüber Bekenntnis- und Religionslosen in Unterzahl. Religionssoziologisch könne man von Entchristlichung der Schweiz sprechen.

Zudem stellte der welsche Gelehrte in Frage, dass das Christentum geschichtlich als Grundlage der Schweiz angesehen werden kann. "„Der moderne Schweizer Staat ist weitgehend durch das Bestreben entstanden, die Konflikte zwischen den rivalisierenden Konfessionen zu befrieden. Das heisst, in einem gewissen Mass, ohne die Religion".“ Das Christentum (oder überhaupt eine Religion) habe nicht als einigendes Band gewirkt und könne daher nicht beanspruchen, der einigende Sockel zu sein, auf dem die Schweiz ruhe. Bei allem kulturellen Einfluss gelte dies für die Institutionen des Bundes nicht; der Bundesstaat sei seit 1874 religiös neutral; die Kantone hätten die Kultushoheit.

Unbestreitbar hätten die Zehn Gebote und die Bibel grossen kulturellen und ethischen Einfluss gehabt, sagte Gonzalez, doch argumentierten Anwälte nicht mit den biblischen Geboten, sondern auf der Grundlage des römischen Rechts. „"Man kann sehr gut Schweizer und Atheist oder Agnostiker sein und immer noch Menschenrechte und Demokratie verteidigen"“; dies gehe auch ohne religiösen Bezug. "„Dieselben Werte oder Institutionen können von verschiedenen Gesichtspunkten und auch Sinnverständnissen her vertreten werden".“ Schliesslich gehe es um einen Konsens.

Im säkularen demokratischen Prozess
Gläubige handeln laut Gonzalez mit Überzeugungen, die sie aus offenbarter Wahrheit gewinnen. Das demokratische Gemeinwesen organisiere sich aber nicht aufgrund offenbarter Wahrheit, sondern in einem Meinungsbildungsprozesses, der immer nur vorläufige Meinungen ergebe. Daher könne eine (offenbarte) religiöse Wahrheit nie der Horizont werden, nach dem sich eine Demokratie orientiert, folgerte Gonzalez. Als Norm politischen Handelns könne eine religiöse Wahrheit nicht als solche gelten, sondern nur indem sie, der Debatte unterworfen, als eine unter anderen Meinungen mehrheitsfähig und ihres religiösen Charakters entkleidet werde.

Nach Habermas sagte der Soziologe, der demokratische Charakter der Eidgenossenschaft schliesse eine "„christliche Schweiz“" aus. "„Und doch sind die Christen nicht zum Schweigen verdammt"!“ Religiöse Werte könnten Christen einbringen -– aber sie müssten sich der Debatte stellen. In ihr komme es darauf an, dass sie den Sinn der Werte den Mitbürgern verständlich machen. Sie hätten überdies zu akzeptieren, so Gonzalez, dass religiöse Werte, um in der säkularen Gesellschaft Geltung zu erhalten, ihren religiösen Charakter verlieren. So könne sie jeder Bürger sich zu eigen machen.

"„Kirche ist öffentlich“"
Thomas Schlag, Theologieprofessor an der Uni Zürich, ging in seinem Vortrag vom öffentlichen Charakter von Kirche aus. Die Verkündigung sei immer öffentlich gewesen (Matthäus 28,18). Die Kirche habe damit auch den Anspruch erhoben, das öffentliche Leben mitzugestalten. Hätte sie dies aufgegeben, „"gäbe es den christlichen Glauben heute nicht mehr oder dieser hätte sich in die klösterliche Abgeschiedenheit zurückgezogen –- mit vermutlich fatalen Folgen für das kulturelle und politische Leben Europas".“

Die Kirchen tun, so Schlags These, gut daran, sich weiterhin als Institutionen zu verstehen, die öffentlich Orientierung geben. Allerdings werde dieser Anspruch heute von manchen als hochproblematisch und gefährlich angesehen, nicht nur von (überaus dogmatisch auftretenden) Freidenkern. Thomas Schlag trat in diesem Zusammenhang nicht für die Rückkehr zu einer christlichen Leitkultur ein. Dieser stehe die Multikulturalität der Schweizer Gesellschaft im Weg. Anderseits könne man hierzulande nicht von einer „"durchgängigen Säkularisierung aller Lebensbereiche“" sprechen.

Religion kann und darf, so der Theologieprofessor, nicht ins Private verwiesen werden. „"Der an vielen Orten beobachtbare religiöse Fundamentalismus ist jedenfalls sicherlich kein ausreichendes Argument, um der Kirche politische Artikulation und Mitsprache zu verweigern".“ Wer den christlichen Glauben so unter Generalverdacht stelle, mache sich selbst verdächtig. Im übrigen wäre auch eine Kirche, die sich nicht öffentlich ausspricht, politisch: indem sie Machtverhältnisse legitimiert.

500 Jahre nach Zwingli: Staat noch gerechtigkeitsliebend?
Die Trennung von Staat und Kirche ist laut Schlag -– wenn richtig verstanden –- "„ein tragfähiges Modell"“. Die Reformatoren unterschieden göttliche und menschliche Gerechtigkeit; "Zwingli wollte keinen Gottesstaat, ging allerdings von einer gottesfürchtigen, gerechtigkeitsliebenden Obrigkeit aus. Heute müsse man fragen, wie das, was die Gesellschaft zusammenhält, artikuliert und begründet wird“". Der säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er weder selbst schaffen noch garantieren kann (E.W. Böckenförde). Religionsneutral sei der säkulare Staat aus historischen Gründen, doch nicht gleichgültig gegenüber den Religionen und nicht wertneutral.

Die Kirche hat daher „"die Verantwortung, sich öffentlich zu artikulieren, da sie selbst ihren Ort niemals ausserhalb, sondern nur inmitten der pluralistischen Gesellschaft bestimmen kann“". Der Theologe aus der Bankenstadt: "„Ein Staat allein kann und wird aus eigenen Antrieben heraus den Schutz der Schwächeren nicht gewährleisten können und im Ernstfall kein ausreichend umfassendes Verständnis von Gerechtigkeit als Teilhabegerechtigkeit haben. Denn es zeichnen sich durchaus Gefahren ab, dass sich am Ende ein Menschen- und Gesellschaftsbild durchsetzt, dass von der Grundidee des Rechtes des Stärkeren lebt".“

Schon darum habe die Religionspolitik die Kirche als Gesprächspartner ernst zu nehmen „"und deren Wertegrundlagen in ihren Entscheidungsprozessen zu bedenken und zu berücksichtigen"“ –- mehr als bisher. Staat und Parteien sollten sich weiterhin von den Kirchen begleiten und kritisieren lassen; dies werde sie handlungs- und entscheidfähiger machen. „"Nicht aus, aber mit Religion lässt sich durchaus auch aktuell Staat machen".“ Der Staat tue gut daran, religiöse Bildung und Werteerziehung zu unterstützen. Im reichen Zürich reichten die vorhandenen finanziellen Mittel für eine wirklich fundierte Bildung und Beheimatung in keinem Fall aus.

Reformierte Wegweiser
Pfarrerin Claudia Bandixen, Kirchenratspräsidentin der Reformierten Landeskirche Aargau, bezeichnete in ihrem Kurzreferat die Kirchen mit öffentlich-rechtlichem Status als „"Chance unserer Gesellschaft"“. Die Reformierten seien zwar "„knochennüchtern –- wir schweigen eher, als zu viel zu sagen“". Aber sie hätten dem Frauenstimmrecht durch innerkirchliche Einführung den Weg geebnet, sie seien gemeinnützig tätig (Gründung z.B. von Max Havelaar). Sie betonten Toleranz ("einfordern, nicht bloss hoffen, dass sie schon passiere“") und setzten sich für Menschenrechte ein.

Weiter, so Bandixen, leisten Reformierte Pionierarbeit für die Gesellschaft, aktuell in der Sterbebegleitung, durch Besuchsgruppen und Ausbildungskursen in Spitälern und Kirchengemeinden. Derzeit nehme die Öffentlichkeit vor allem negative Entwicklungen wahr, räumte die Kirchenratspräsidentin ein. Und zitierte Calvin: „"Obwohl die Kirche zur Zeit kaum zu unterscheiden ist von einem toten oder doch kranken Mann, so darf man doch nicht verzweifeln. ... Halten wir fest: das Leben der Kirche ist nicht ohne Auferstehung, noch mehr: nicht ohne viele Auferstehungen.“

Wohl der Schwachen –- Stärke des Staats
Vor dem abschliessenden Podium legte EVP-Nationalrätin Maja Ingold mögliche Folgerungen für die politische Arbeit vor. Ein Land könne kaum christlich sein, höchstens die Menschen, die darin leben, oder die Gesetze, die es sich gibt, könnten christlich inspiriert sein. Nach Ingold gibt die Präambel der Bundesverfassung eine hervorragende Beschreibung einer christlichen Solidargemeinschaft: Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen. Politik auf christlichen Grundlagen bedürfe immer wieder einer sorgfältigen persönlichen Abwägung zwischen verschiedenen Gütern. Sie sei dem sorgfältigen Ringen um gute Lösungen für alle verpflichtet. Das sei alles leichter gesagt als getan.