Junge Erwachsene: «Eine andere Kirche ist möglich!»
Im St. Galler Netzwerk Junge Erwachsene arbeiten Reformierte regional und kantonal zusammen. Events und Aktionen, Feiern und Retraiten machen Kirche erlebbar, verbinden und stärken den Glauben. Die Kantonalkirche unterstützt das Netzwerk mit einer Arbeitsstelle. Kirchenratspräsident Dölf Weder spricht von einer sehr schwierigen Herausforderung. Und ist entschlossen: „Wir wollen junge Erwachsene begleiten.“
Das Netzwerk Junge Erwachsene verbindet 18-35-jährige Reformierte zwischen Rorschach, Wil und Sargans, die vom Traum einer „lebensnahen, zeitgemässen und offenen Kirche“ bewegt sind. Das Netzwerk gestaltet den Adventskalender gADVENTwöttsch, lädt mit der Aktion ‚40 tage ohne‘ zum Verzicht ein und führt Tagungen durch. Mit seinem Veranstaltungskalender weist es hin auf weitere Angebote im Kanton: Ende August wurde erneut ein fünftägiger Segeltörn auf dem Bodensee angeboten.
An zwei Donnerstagabenden im Monat gibt es in der Kathedrale St. Gallen ein ökumenisches Stadtgebet. Die meditative Nacht der Lichter, in St. Gallen seit Jahren ein Hit, wurde im November 2009 erstmals in Wattwil fürs Toggenburg veranstaltet (mehr auf Netzwerk Junge Erwachsene).
Alternativen schaffen
In der Gallusstadt gestalteten Junge im August erstmals den Gottesdienst „echtzeit“ mit Band, Input und Kreuzverhör und anschliessender Bar. „Wir wollen eine Alternative schaffen zum traditionellen Sonntagsgottesdienst, einen Ort, wo ich als junger Mensch mit gutem Gefühl hingehe“, sagt die Mitinitiantin Sabrina Schönenberger. Benjamin Oertle, ebenfalls im Team, legt Wert auf eine Predigt mit „authentischen Gedanken mitten aus dem Leben“. Bei der echtzeit am 28. August im „Lagerhaus“ im Stadtzentrum sprach ein Internetseelsorger über Identitätsfragen (mehr auf der echtzeit-Website).
Vorbilder gefragt
Seit November 2007 betreut Markus Naef (35) die Arbeitsstelle Junge Erwachsene mit einem Pensum von 50 Prozent. Die Kirche könne die Werte dieser Altersgruppe nicht mehr „extrem beeinflussen“, meint der Toggenburger Primarlehrer mit abgeschlossenem Soziologiestudium. Die Erfahrungen als Jugendleiter in seiner Kirchgemeinde hätten ihn jedoch gelehrt, dass Jugendliche viel annehmen, wenn sie im Übergang zum Erwachsenenalter „authentische, ehrliche, gesprächsbereite Vorbilder haben, die auch Beziehungen überzeugend gestalten“.
Kirchenratspräsident Dölf Weder verweist darauf, dass wesentliche persönliche Normen sich in der Adoleszenz bilden oder umbilden (Erik Erikson). In der pluralistischen Gesellschaft könne die Kirche den Jungen nicht mehr vorschreiben, wie sie zu leben haben. „Aber wir können mit ihnen unterwegs und im Gespräch sein.“
Die Modelle fehlen
Das ist ein hohes Ziel. Weder räumt ein: „Wir haben für die Zeit nach der Konfirmation keine funktionierenden Modelle mehr.“ Nur noch an wenigen Orten gebe es CEVI und Junge Kirche. Im Übergang zum Erwachsenenalter sei die Kirche nur noch wenig gegenwärtig. Der Präsident der St. Galler Kirche nimmt kein Blatt vor den Mund: „Nach der Konfirmation bricht der Kontakt zur Kirche ab. Nicht nur im religiösen Wissen, sondern auch in der religiösen Entwicklung bleiben Jugendliche stehen, spätestens im Konfirmandenalter.“
Gottesdienste für Nachkonfirmierte
In Weders Einschätzung hat die Kirche schon in früheren Generationen mit den 18-25-Jährigen wenig anzufangen gewusst. „Von der Arbeit mit jungen Erwachsenen flüchtete man sich in die Konfirmierten- und Teenager-Arbeit und weiter hinunter, so dass teils nur noch mit Kindern gearbeitet wird. Die Kluft zwischen der Konfirmation und der Zeit der Heirat, die heute später stattfindet, hat sich vertieft.“
Der St. Galler Kirchenrat hat die Herausforderungen dieses Jahr im Bericht Geistliche Begleitung von Kindern und Jugendlichen in der St. Galler Kirche an die Synode dargelegt. In seiner «Gesamtschau aller Aspekte der geistlichen Begleitung von Kindern und Jugendlichen» plädiert er u.a. für „lokale oder regionale Gottesdienste speziell für Nachkonfirmierte“. Junge Erwachsene sollen zur Mitgestaltung angefragt werden, im Konf mitwirken und sich kreativ betätigen können.
Neue Musik und Freiräume
Dies ist der jüngste von mehreren Schritten, die die St. Galler Kirche zu den Jungen bringen sollen. Seit Dölf Weder, zuvor CEVI-Sekretär für Europa, im Jahr 2000 das Kirchenratspräsidium übernahm, hat sie auch personell Akzente gesetzt. Neben Markus Naef (im Bild oben ganz links, mit Teilnehmern einer Retraite) hält Peter Christinger von der Arbeitsstelle Familien und Kinder/Jugend, seit 2003 Fäden zusammen, leitet an, ermutigt und koordiniert.
Christinger sucht namentlich die Konfirmierten, die 16-20-Jährigen, mit Kirche in Beziehung zu halten. Den beiden helfen Mirjam Noser als Volontärin und zeitweise Zivildienstleistende. Die jungen Erwachsenen unterstützen auch die Bemühungen zur Förderung zeitgenössischer Kirchenmusik-Stile und neuer Gottesdienstformen. Auf diesem Feld ist die St. Galler Kirche national führend.
Zur Wertebildung beitragen
Für Naef gilt es mitzuwirken, wenn sich das Wertgefüge junger Erwachsener aufbaut. „Die Kirche muss versuchen, Präsenz zu markieren – dass sie an die Werte, die sich bilden, einen Beitrag leistet.“ Das Bewusstsein, dass die Gesellschaft eine Wertebasis braucht, sei zwar gewachsen, meint Weder, „aber man ist kritisch und ablehnend gegenüber jeder Institution, die daherkommt und Werte anbietet“.
Markus Naef formuliert ein Klischee nicht nur junger Erwachsener: Kirche als Institution, die mir sagen will, was ich zu tun habe. „Da haben wir den Tatbeweis zu erbringen, dass wir den Diskurs, das fortlaufende Gespräch, wollen, dass wir mit den jungen Erwachsenen einen Weg gehen wollen, sie nicht einfach anpredigen.“
Jesus und Paulus konnten die Kultur nicht bestimmen, sagt Weder. „Sie gaben ihre Botschaft hinein ins Gespräch. Ich bin überzeugt, auch heute noch lassen sich Leute darauf ein, wenn man mit ihnen im Gespräch ist und Vorbilder anbietet.“ Die Staatskirche habe ihre Werte den Leuten auferlegen und mit staatlichen Mitteln durchsetzen können. „Diese Ordnung ist zerbrochen – und das ist gar nicht so schlecht.“ Der St. Galler Kirchenleiter glaubt an die Kraft der christlichen Botschaft, die überzeugt. „Das altmodische Wortpaar bezeugen/Zeugnis bekommt da ein ganz neues Gewicht.“
Weder beliebig noch rigid
Die im Netzwerk Junge Erwachsene vernetzten Jungen wollen mit ihrem Engagement zeigen, dass es möglich ist, Glauben zu leben und in der heutigen Zeit verwurzelt und keineswegs altmodisch zu sein. „Sie wollen sich mit der Bibel befassen und ihre Inhalte ernst nehmen. Das vorzuleben und zu bezeugen, den Weg zwischen extremer Beliebigkeit (alles möglich) und einer rigiden Moral (alles vorgeschrieben) zu gehen – das ist nicht einfach, aber attraktiv.“
Im Netzwerk engagieren sich derzeit über ein Dutzend Personen zwischen 18 und 35; zahlreiche weitere Junge nutzen die übers Jahr verteilten Angebote. Darunter sind Wochenenden, die die vertiefte Auseinandersetzung mit einem Thema ermöglichen. Da könne man, sagt Naef, „Lebensfragen angehen im Rückgriff auf Werte, die wir in der Bibel finden. Zweimal jährlich findet eine Retraite statt.
„30 unter 30“ in die Synode
Der intensivierten Arbeit mit jungen Erwachsenen entspricht das Bemühen, ihre Vertretung in der Synode der Kantonalkirche zu verstärken. Die Synode beschloss 2008 die Vision „St. Galler Kirche 2015“ und gab darin den Auftrag, bis dann den Anteil junger Erwachsener in Synode und Kirchenvorsteherschaften ihrem prozentualen Anteil an Kirchenmitgliedern (17%) anzunähern. Mit der Losung „30 unter 30“ sucht das Netzwerk mehr junge Reformierte für die 180 Synodesitze.
2010 haben sich wieder 15 unter 30-jährige Reformierte in die Synode wählen lassen (2002 elf, 1998 erst zwei). Damit hat, wie Markus Naef auf der Homepage schreibt, St. Gallen „mehr Jungsynodale als Zürich, Bern, Graubünden, Aargau und Basel zusammen“. Den vom Netzwerk ausgeschriebenen Wettbewerb um den Goldenen Güggel (Welche Gemeinde entsendet im Durchschnitt die jüngsten Abgeordneten ins Kirchenparlament?) gewann diesmal Sennwald-Lienz-Rüthi.
Die kreativen Netzwerker machen laut Homepage weiter: „In den nächsten Jahren soll das goldene Federvieh noch etliche andere Gemeinden kennen lernen.“ Dass es Markus Naef auf der Arbeitsstelle gibt, ist übrigens das Ergebnis einer Motion, welche Junge in der Synode einreichten.
Neues mit weniger Jungen
Auch zwischen Bodensee und Walensee steht die Arbeit mit jungen Erwachsenen im Schatten der demografischen Prognose. Weder räumt ein: „Wir werden in fünfzehn Jahren noch halb so viele Konfirmanden haben wie heute.“ Darum soll die Kirche auch in die Gesellschaft hineinwirken und „dazu beitragen, dass sie Anreize zur Elternschaft schafft“.
Am Sozial- und Umweltforum Ostschweiz am 16. Mai 2009 in St. Gallen verschenkten Mitglieder des Netzwerks Max-Havelaar-Biobananen – und zwar blaue, rote und grüne mit rosa Punkten. Die jungen Reformierten wollten damit auch signalisieren, dass sie Neues erwarten: „Eine andere Kirche ist möglich!“