Milieus aus dem Glauben gestalten
Am Leiterforum der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA befassten sich Freikirchenverantwortliche, Reformierte und Werkleiter mit den gesellschaftlichen Trends und wie Kirchen darauf reagieren können.
Zu Beginn am Abend des 16. Dezember begrüsste SEA-Zentralsekretär Hansjörg Leutwyler den reformierten Kirchenhistoriker und Autor Armin Sierszyn. Dieser bejahte die Frage nach der christlichen Schweiz mit Streiflichtern auf Antike, Mittelalter und die frühe Neuzeit. Der römische Kaiser Konstantin schützte den Sonntag; in der Folge wurde Abtreibung verboten und der Entlassung von Gattinnen sowie der Aussetzung von unerwünschten Kindern, im Heidentum üblich, gewehrt.
Die von Christen vermittelte neue Wertordnung wurde, so Sierszyn, zur "Grundlage für Europa". Die Mönche hätten als Missionare alles gegeben, zwar Fehler gemacht, aber authentisch gelebt. Die Klöster seien Zentren nicht nur des Glaubens, sondern der Bildung und des wirtschaftlichen Lebens gewesen.
Harmoniebedürftiges Jahrhundert
Im 11. und 13. Jahrhundert gingen die Wogen grosser erwecklicher Bewegungen über Europa. In der Reformationszeit sei das Wort Gottes als Richtschnur neu entdeckt worden. "Das 16. Jahrhundert fragt nach Wahrheit, das 20. nach Harmonie".
Zu den geschichtlichen Tatsachen stellte Sierszyn, Professor an der STH Basel, weiterbestehende Zeichen der Bindung ans Christentum. Über der Schweizer Bundesverfassung steht - obwohl politisch umstritten - "Im Namen Gottes des Allmächtigen". Auch das Schweizer Kreuz sei ein starkes Zeichen.
Nach 1600 kam es zu einer fundamentalen Wende im europäischen Bewusstsein. Die Gräuel der Religionskriege und wissenschaftliche Erkenntnisse führten laut Sierszyn zu einer Aufspaltung der Welt: Für das Sichtbare wurde die Naturwissenschaft zuständig. "Bibelkritik löste die Lebensgrundlagen der Kirche allmählich auf". Schon um 1800 habe sich die Bildungselite vom traditionellen Glauben ausgeklinkt; das Volk sei weiter an ihm gehangen, doch Arbeiter hätten sich der Kirche bald entfremdet.
Nach den zwei grossen Katastrophen der Weltkriege habe Karl Barths Wort-Gottes-Theologie den Deutschen und den Schweizern die reformatorische Theologie zurückgegeben. Sie wirkte bis 1960, so dass der Eindruck der Schweiz als eines christlichen Land fortbestand. Als Sinnbild zeigte Sierszyn die damalige Hundertfrankennote mit St. Martin, der seinen Mantel teilt, um den Armen zu kleiden.
"Kulturrevolution seit zwei Generationen"
Bestimmend für die letzten Jahrzehnte wurde laut Sierszyn (im Bild mit Hansjörg Leutwyler, links) die 68er-Bewegung. Sie habe mit ihrem Kampf gegen die christliche Ehe und Familie und gegen die Institutionen eine kulturelle Revolution ausgelöst, "einen Sturm, der bis heute anhält". Ziel sei das selbstbestimmte Leben in einer Lust- und Spasskultur.
Die heutigen sozialen Probleme führt Sierszyn auf diese Bewegung zurück. So habe man begonnen, zwischen guter und böser Gewalt zu unterscheiden. "Seit zwei Generationen rollt die Kulturrevolution durch unseren Kontinent. Sie trennt ihn von den christlichen Wurzeln ab. Jene, die durch die geisteswissenschaftliche Mühle gingen, sind dem Christentum entfremdet".
Bei christlichem Bewusstsein anknüpfen
Der Referent konstatierte eine "gesellschaftliche Depression". Im Volk gebe es jedoch ein christliches Bewusstsein, bei dem die Kirchen anknüpfen könnten. Da die Ideale der 68er Kultur versagten, bestehe nun die Chance, die Herzen und Köpfe der Menschen mit dem Wort der Bibel, dem Geist Gottes zu erfüllen. Armin Sierszyn forderte die Anwesenden auf, um Einigkeit unter den Christen und erwecklichen "Südwind" zu bitten.
In seiner Generation, betonte der 68-Jährige, sei das Unheil passiert; daher solle man die Kinder nicht verurteilen, sondern lieb haben. Das Leben sollten Christen wieder neu verstehen als Dienst an Gott und "Ewigkeit finden als Heimatboden für unsere Seele, dass wir frei werden vom Haschen nach mehr, vom Glauben an die Allmacht der Ökonomie". Das DDR-Regime sei mit Gebeten und Kerzen in die Knie gezwungen worden.
Die Gemeinde - so wie ich sie haben will
Was prägt Christen in der Schweiz heute? In Freikirchen stehen sie laut dem Vorsitzenden der Schweizerischen Pfingstmission und des Freikirchenverbands VFG, Max Schläpfer, in der Gefahr, sich der Umgebung anzugleichen. Mit Beispielen aus den Gemeinden arbeitete er vier prägende Faktoren heraus: 1. Pluralismus, Individualismus und Hedonismus: "Mancher gibt sich nicht mehr in eine örtliche Gemeinde hinein, weil sie nicht allem entspricht, was er wünscht".
Christen stellten ihre persönliche Meinung über das klare Zeugnis der Schrift und bastelten sich ein eigenes Nachfolge-Verständnis zusammen. Immer mehr forderten von der Gemeinde "eine massgeschneiderte Lösung für sich". Dabei sei das Zusammenleben der Gemeinde nicht auf Individualismus angelegt, sondern auf das Zusammenwirken ihrer Mitglieder.
Als zweiten Faktor nannte Schläpfer den starken Einfluss der Medien und ein Ringen um Aufmerksamkeit. "Menschen werden geprägt, nicht mehr nach grösseren Zusammenhängen zu fragen". Doch für mündiges Christsein sei ein zusammenhängendes Verständnis dessen vonnöten, was die Bibel lehrt.
Der Freikirchenleiter konstatierte den Druck, den Gottesdienst zu einem multimedialen Ereignis zu machen. Drittens gibt es laut Schläpfer einen "Kampf um die ständige Erneuerung unserer Evangelisation". Die Gefahr sieht er darin, dass "jeder Strohhalm gepackt wird, um evangelistisch wieder etwas Neues zu gestalten". Es gelte, beständig zu arbeiten, damit Christen "in eine evangelistische Kraft hineinwachsen".
"Aufkeimende nationalreligiöse Tendenz"
Viertens warnte der VFG-Präsident vor einer "aufkeimenden nationalreligiösen Tendenz". Nationale und Glaubensidentität dürften nicht verbunden werden. "Eine Nation als besonders von Gott gesegnet zu sehen, Aktivitäten zu empfehlen, die den Segen verlängern sollen, ist gefährlich". Das Reich Gottes durchdringe alle Völker und Nationen. "Das Neue Testament kennt keine Segnung eines Volks oder einer Nation, ausgenommen Israel".
Schläpfer schloss mit vier Empfehlungen: Die Christen sollten "den göttlichen Auftrag konzentriert wahrnehmen", ohne sich ablenken zu lassen, "beten, hinstehen und arbeiten" - und dies unauffällig. Wie Jesus sollten sie sich um einzelne Menschen kümmern. Es gelte, das Evangelium substantiell zu verkündigen, ohne theologische Engführungen und Lieblingsthemen, im "Ringen, dass Gott jetzt ein Wort gibt für Menschen". Mit dem Streben nach Transformation der Einzelnen sei das "Reich-Gottes-Denken zu fördern. Reich Gottes ist dort, wo Menschen einen König über sich akzeptieren".
SEA-Jugendsekretär Matthias Spiess berichtete über die Weltmissionskonferenz der Lausanne-Bewegung in Kapstadt im Oktober. Sie stand unter dem Motto "Das ganze Evangelium der ganzen Welt durch die ganze Gemeinde". Für die Schweizer Delegation ergab sich der Wunsch, die Einheit unter Christen zu stärken und grosszügig partnerschaftlich zu agieren. "Einheit ist kein Ziel, sondern eine Tatsache". Der Rest des Vormittags wurde für Austausch und Gebet verwendet.
In Europa Chancen sehen
Zu den Zukunftsaussichten referierten am Freitagnachmittag Markus Müller, Direktor der Pilgermission St. Chrischona, und der Lausanner Religionssoziologe Jörg Stolz. Müller lud dazu ein, das Zeitgeschehen auf drei Ebenen zu betrachten: Einzelereignisse, sichtbare Entwicklungen und Reich Gottes-Dynamik. Er plädierte dafür, in Europa Chancen zu sehen und wahrzunehmen und sich nicht von beängstigenden Entwicklungen entmutigen zu lassen.
Nach Müllers Analyse verunsichert der Zerfall von Gewissheiten in Hauptbereichen des Lebens seit 1960: in Ehe und Familie, Arbeitswelt, Religion und Staat. Die 68er-Bewegung, die Esoterik und die Bewegung zur Auflösung geschlechtlicher Identität hätten im gleichen Zeitraum Erfolg gehabt. Markus Müller regte an, Fragen der Identität zu bewegen. Christliche Richtigkeiten genügten im 21. Jahrhundert nicht; Kulturräume und Milieus seien zu gestalten.
Auf einer sich drehenden Platte könnten jene sich halten, die sich in ihrer Mitte befinden; andere würden von den Drehkräften hinausgeschleudert. Müller fragte: "Sind wir als christliche Kirchen auch gefährdet, ausserhalb des gesellschaftlichen Systems zu rotieren"? Nach dem Chrischona-Direktor gilt es, "Orte zu schaffen inmitten der entmitteten Gesellschaft, in denen sichtbar wird, was Gott uns anvertraut hat".
Wahr und barmherzig - Erbe mit Zukunft
Dabei können Christen ein vielgestaltiges Erbe aufgreifen. Müller verwies auf die ersten Schritte des Apostels Paulus auf europäischem Boden (Apostelgeschichte 16) und nannte fünf "Erbstücke, die es im Blick auf die Zukunft aus der Truhe zu nehmen gilt": Christliches Engagement hat auf Wahrheit und Barmherzigkeit zu beruhen. In Europa geht es um die Herzen. Der Kontinent zeichnet sich aus durch versöhnte Vielfalt, die Hochschätzung der Bildung und Gastfreundschaft (wie sie Lydia, die erste Christin auf dem Kontinent, erwies).
Christen können, so Müller, königlich-priesterlich agieren; sie sollen sich als Pilger, Diener und Nachfolger des Lammes (Christus) verstehen und friedfertig um Gerechtigkeit ringen. Müller gab sich überzeugt, "dass diese Art die einzige ist, um der Herausforderung durch andere Religionen, namentlich den Islam, zu begegnen".
Er regte Denkwerkstätten und Schulterschlüsse von Christen an "angesichts der zentrifugalen Kräfte und der Dynamik des Auseinandergehens". Die Frage stelle sich, "ob der Glaube wirklich die innerste Instanz statt schöner Schmuck sein darf".
"Normen ändern auch in Freikirchen"
Jörg Stolz, Professor für Religionssoziologie an der Uni Lausanne, stellte gesellschaftliche Megatrends und kirchliche Reaktionen einander gegenüber. Die Reformierten sprechen bestimmte Milieus an; die PfarrerInnen unterscheiden sich vom Kirchenvolk. "Die reformierte Kirche hat häufig SP-Positionen. Für manche Kirchgänger ist das schwierig, da sie diese nicht teilen". Weiterhin hoffen Gottesdienstbesucher, Kraft zu schöpfen und Gemeinschaft zu erfahren.
In der stark gesunkenen Zahl der Trauungen wird die Entkirchlichung der Schweizer Bevölkerung besonders deutlich. Laut Jörg Stolz wirken die Trends auch auf Freikirchen. "Der Kirchgang ist teils hoch geblieben. Aber die Normen ändern". Die Aussage, dass ein richtiger Christ regelmässig zur Kirche geht, wird nach einer noch unveröffentlichten Umfrage noch von 68% der charismatischen Freikirchler und 47% der Angehörigen traditioneller Freikirchen bejaht - Tendenz sinkend.
Hoffnung - für alle Milieus?
"Die Zukunft der Reformierten" (so der Titel des Buchs von Stolz) ist offen, wenn die Kirchen kleiner und ärmer werden. Der Soziologe äusserte, die Reformierten könnten stärker zielgruppenorientiert arbeiten; dies könne zum Wachstum von Kerngemeinden führen. Das Verhältnis zwischen Reformierten und Freikirchen werde nicht als grosses Problem wahrgenommen - "aber auch nicht als Potenzial".
Markus Müller stellte in der Diskussion die Frage in den Raum, ob es Grundlagen - wie etwa Hoffnung - gebe, welche auf alle Milieus zuträfen. Christen hätten Einfluss zu nehmen auf Milieus.