Kirche als Heil-Land

Wenn wir Heilung brauchen, dann eigentlich von Angst. Kirche ist dazu da, das Sehnen nach dem Heilwerden zu stillen. Der Wiener katholische Theologe Paul M. Zulehner referierte am 28. Januar 2011 an der Kirchenpflegertagung der Zürcher Landeskirche in Männedorf über Gemeindebau: «Menschen ansprechen und gewinnen»“. Im Gespräch äussert er sich über den Auftrag der Kirche in der Gesellschaft, über die Burnout-Epidemie und ihre Wurzeln, wohltuende Wertschätzung und spirituell Suchende.

LKF: Die Menschen suchen Heil. Denken Sie, dass das Bedürfnis nach Heil auch im urbanen Milieu heute wieder eher erahnt wird als vor 30 Jahren?
Paul M. Zulehner
: Menschen, die sich in das moderne Leben ganz eingelassen haben und sich nicht hinausstehlen in Sondergruppen, spüren, wie anspruchsvoll und herausfordernd es ist. Wir setzen uns ganz hohe Ziele und haben bei ihrer Verwirklichung dauernd das Gefühl: Das Leben beschleunigt sich und wird überfordernder. Die Zahl der Burnouts nimmt zu. Es ist die teuerste Volkskrankheit geworden, dass Menschen sich überfordern, sich zu Tode arbeiten, sich zu Tode amüsieren, sich zu Tode lieben.

Da empfinden immer mehr Menschen, dass irgendetwas nicht stimmen kann, dass wir an der Gestalt dieses modernen Lebens kranken. Von daher kommt natürlich die Frage: Wie kann Heilung geschehen? Wie können wir diese tiefe Krankheit an der Wurzel unserer Seele loswerden? Aus diesem Grund ist Heilung ein zunehmend wichtiges Grundthema nicht der Kirche, sondern zunächst der Kultur als solcher.

Paul M. Zulehner bei seinem Vortrag auf boldern.

Menschen spüren, dass sie vom Leben geschüttelt und umhergeworfen werden und keinen Halt haben. Brauchen sie Heilung von Haltlosigkeit?
Das ist eine Facette von vielen. Der Heilung bedarf der Mensch von einer tiefsitzenden Angst an der Wurzel der Seele. Die Angst hat sehr viele Gesichter: die Angst, zu kurz zu kommen, nicht mehr zu wissen, wer man ist, weil man sich immer wieder neu definieren muss und kann -– der moderne Mensch sagt: Hier stehe ich und ich kann jederzeit anders. So verliert er letztlich den Boden unter seinen Lebensbeinen.

Von dort her, wenn diese Angst sich ausbreitet und die Seele auffrisst, wie die Afrikaner sagen, wächst die Sehnsucht: Könnte der Mensch von dieser tiefsitzenden Angst nicht geheilt werden, damit ein Leben miteinander wieder möglich wird? Ein Leben in belastbarer Liebe –- denn die Angst entsolidarisiert auch.

Nun versprechen säkulare Anbieter in Konkurrenz zu den Kirchen Heilung.
Ich halte es mit Jesus, der sagt: Wenn andere das auch tun, sind sie keine Konkurrenten, sondern Mitarbeiter. Wenn sie gut arbeiten und in den therapeutischen Bereichen der modernen Kultur Menschen heiler werden und die Angst um sich selber verlieren, ist das tadellos und aus Sicht des Evangeliums nur zu unterstützen.

Allerdings übersehen wir, so glaube ich, dass die verschiedenen Ängste, die jetzt Thema einer profanen Therapie sein können, letztlich zu tun haben mit der Angst des Menschen vor seiner Vergänglichkeit und Vergeblichkeit -– mit der Angst, so Kierkegaard und Drewermann, vor dem Tod.

Dort wo die Angst vor Vergeblichkeit und Endlichkeit herrscht, versucht der Mensch für sich selbst das Maximum abzuringen. Auf diese Art und Weise kommt es zu der gewalttätigen und gierigen Stilisierung des Lebens, die nicht heilt, sondern krank macht.

Es ist ein tiefes spirituelles Problem, nicht nur eines der säkularen Therapie –- wobei ich beobachte, dass gerade deren Vorhut immer das Gespräch mit den Vertretern spiritueller Wege sucht und es von daher zu einer ganz guten Zusammenarbeit zwischen Seelsorge und Therapie kommt.

Wie kann die Kirche als Gemeinschaft gewöhnlicher Menschen eine heilende Gemeinschaft werden -– dass viele hereinkommen und hier ihrer Ängste ledig werden?
Das ist eine Aufgabe der Kirche: die Art, wie Gott zu den Menschen ist, auch in ihrem Alltag zu leben. Das heisst: Jeder hat ein hohes Ansehen, eine grosse Würde, weil Gott ihn würdigt. Jeder kann bestehen vor Gott, auch in jeder Schuld und vor jeder Leistung. Ich glaube, dass das sehr heilsame Grundbedingungen im kirchlichen Miteinander sind. Durch diese tiefe Achtung, Respekt und Wertschätzung erleben Menschen ansatzweise schon Heilung.

Dies setzt sich dann fort: In den kirchlichen Gemeinschaften wird so etwas wie verlässliche Beziehung gelebt wird, ein Miteinander, wobei die unbehauste Seele zu Ahnungen von Herberge und Heimat findet. Diese tun ihr wohl. Nun geschieht dies alles in dem Ausmass, in dem die kirchlichen Gemeinschaften und die Menschen, die sie bilden, aus einer Tiefe Gottes heraus leben. So werden die heilsamen Auswirkungen in der Kirchgemeinde erlebbar.

Wie soll die Kirche mit der Sehnsucht der Menschen umgehen, die in der Esoterik und ausserkirchlichen spirituellen Gruppen Heilung und Heil suchen?
Ich trete mit dem Menschen, der spirituell sucht, ins Gespräch ein, indem ich zuerst einfühlsam frage: Was suchst du eigentlich? Was ist deine Sehnsucht? Ich versuche ihn mit seiner Sehnsucht in Berührung zu bringen. Kann er dann erkennen, welchen Weg er eingeschlagen hat? Er, der Betroffene, bleibt der Evaluator –- ich urteile nicht. Drittens stelle ich ihm die Frage: Führt dich dieser Weg bei der Stillung deiner Sehnsucht weiter?

Wenn wir so einfühlsam mit spirituell Suchenden umgehen, erlebe ich, dass sie uns die Gegenfrage stellen: Welchen Weg schlägst du ein? Hast du auch eine Sehnsucht? Und hast du vielleicht eine Gemeinschaft, wo ich ein Stück des Wegs mit dir gehen kann?

Das wäre die spirituelle Offerte: dass die Kirchen den Zugang öffnen und gastfreundlich sind und auf ein Stück des Wegs mitnehmen. Denn auch wir haben Weisheit und Erfahrungen, nach denen wir unsere spirituelle Sehnsucht gestalten.

Im Dialog von Christen und spirituellen Pilgern ist mir aufgefallen, dass die Christen von der Auferstehung von Christus redeten, aber nicht vom Auferstandenen selbst, der uns seine Worte von jenseits des Todes, jenseits der Angst zuspricht, der uns von da entgegenkommt.
In der Bibel, im Kolosserbrief, wird Christus unmissverständlich als derjenige gepriesen, auf den hin alles erschaffen ist. Er ist der Erstgeborene der ganzen Schöpfung, und in ihm wird dann alles versöhnt werden. Der Hymnus meint, dass Christus als Haupt der vollendeten Welt schon die gesamte Welt als Glieder in sich hineinzieht.

Nach und nach kann er als der von Raum und Zeit entgrenzte Auferstandene alles, was in die Vollendung hineinkommt, aufnehmen. So gesehen ist der Auferstandene der Schlüssel für die Vollendung der Welt -– denn er ist selbst der Anfang der vollendeten Schöpfung.

In der Auferstehung ist Jesus von Nazareth, der in dieser Welt gelebt hat, von Raum und Zeit so frei geworden, dass er die ganze Schöpfung in sich aufnehmen kann. Er löst ein, was der Kolosserhymnus sagt: Auf ihn hin ist alles erschaffen; er ist der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. Dann gibt es aber Nachgeborene: Wir sind die, die nach ihm hineingeboren werden in die Vollendung.

Was bedeutet die Erwartung der neuen Schöpfung für innere Heilung?
Der Heilung bedarf alles, was diesem Reifen in die Liebe hinein im Wege steht: Schuld, Angst -– was die Liebe verhindert. Wir wissen ganz genau, dass es sozusagen eine dämonische Gegenströmung gegen das Heilwerden der Schöpfung gibt. Wir nennen das theologisch Erbschuld, die Leute auf der Strasse identifizieren sie mit Gewalt, Gier und Lüge.

Im Rahmen der Menschheitsgeschichte, die von diesen dunklen dämonischen Kräften geprägt ist, kann Gottes Traum von der Schöpfung -– dass sie in die Liebe hineinreift und vollendet wird -– nicht sich so unbehindert entwickeln.

So hat die Kirche aus der Kraft des ihr geschenkten Heiligen Geistes Gottes zum einen die grosse Aufgabe zu enthüllen, was für die ganze Schöpfung gilt -– anderseits die Schöpfung mit dem Geist Gottes von diesen dämonischen Gegenkräften zu heilen, die ihrer Vollendung im Wege stehen.

Ich glaube, das ist die Doppelarbeit der Kirche: dass sie Licht der Welt und Salz der Erde ist. Licht heisst zu sagen, wohin es läuft, Salz meint zu heilen, was der Vollendung im Weg steht. Es ist die Doppelaufgabe der Kirche, zu enthüllen und zu heilen, Licht und Salz zu sein.

Der Wiener Paul M. Zulehner, 1939 geboren, katholischer Priester, hat an der Universität Wien seit 1974 Pastoraltheologie doziert und diese mit soziologischen Forschungen abgestützt.
Vortrag von Paul M. Zulehner auf boldern, 28. Januar 2011: „"Menschen ansprechen und gewinnen“"