Zürcher Landeskirche im Übergang
Am 15. März hat die Zürcher Kirchensynode den Thalwiler Pfarrer Michel Müller zum Kirchenratspräsidenten gewählt. Er folgt auf Ruedi Reich in einer Zeit, da die Kirche Zwinglis in mancher Hinsicht an der Schwelle steht.
Im Gespräch mit reformiert. meinte Müller, der Wunsch nach geistlicher Vertiefung könnte bei der Wahl den Ausschlag gegeben haben. "Ich will den Glauben in die Gesellschaft einfliessen lassen, ohne dass die Kirche zu einer Kirche wird, die in der Gesellschaft kaum mehr erkennbar ist." Wenn man ihm im Wahlkampf das Etikett des "Frommen" angehängt habe, sagte Müller, sei das für ihn "eher ein Kompliment. Frommsein heisst, dass ich eine persönliche Glaubensbasis habe."
Neben den seelsorgerischen, sozialdiakonischen und kulturellen Tätigkeiten leiste die Landeskirche auch mit ihrer Verkündigung "Dienst an der Gesellschaft; denn eine Gesellschaft ohne Werte, Traditionen und Orientierung zerfällt".
In der Zürcher Kirchensynode gehören die Synodalen einer von vier Fraktionen an. Michel Müller, vom Synodalverein aufgestellt, erhielt am 15. März im vierten Wahlgang 84 von 164 Stimmen. Den Ausschlag gab die Evangelisch-kirchliche Fraktion (EKF), die Müller zur Wahl empfahl. EKF-Präsident Willi Honegger sagte, Müller stehe "als Pfarrer einer typischen Agglomerationsgemeinde jenen Möglichkeiten des Kirche-Seins am nächsten, das für die Mehrzahl der Reformierten Realität ist". Man schätze Müllers Verlässlichkeit, Geradlinigkeit und "ein gesundes Mass an Realitätssinn und Gelassenheit".
"Lebendige Gemeinde als Basis unserer Kirche"
Im reformiert-Interview betont Müller: "Die Basis unserer Kirche ist eine lebendige Gemeinde - und das strahlt aus." Die Wirkung müsse mit Leuchtfeuern unterstrichen werden: mit herausragenden Projekten im kulturellen, sozialdiakonischen, religiösen oder gesellschaftspolitischen Bereich. Solche Leuchtfeuer seien von der Landeskirche zu entzünden, doch könne auch eine einzelne Kirchgemeinde "etwas Glaubwürdiges" stellvertretend für den ganzen Kanton machen.
Michel Müller (47) gewann die Wahl überraschend. Dem Kandidaten der liberalen Fraktion, Kirchenrat Andrea Marco Bianca, und dem Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist, den fünf Synodale aus allen Fraktionen vorgeschlagen hatten, hatten die Medien bessere Chancen gegeben. Der Tages-Anzeiger kommentierte, die Synode habe mit der Wahl Müllers, der "das traditionelle Pfarrer-, Familien- und Vaterbild am akkuratesten verkörpert", eine grosse Chance zur Profilierung verpasst. Die Synode fühle sich "in der Stallwärme der Provinzialität wohler als im rauen Wind eines evangelischen Aufbruchs". (Mehr zur Wahl in der landeskirchlichen Zeitschrift notabene.)
Ruedi Reich verabschiedet...
Gleich nach der Wahl Müllers wurde sein Vorgänger in einer bewegenden Feierstunde verabschiedet. Ruedi Reich, seit 1973 (!) in der Synode aktiv, wirkte 17 Jahre als Kirchenratspräsident. Er musste im Herbst 2010 schwer erkrankt zurücktreten, ein Jahr vor Ende der Amtszeit. Von Karl Barth theologisch geprägt, war Reich dem Erbe der Reformation verpflichtet; er hielt sich ans Motto des zweiten Zürcher Reformators Heinrich Bullinger "Allein Christus ist zu hören".
Der Sohn des im Amt verstorbenen Regierungsrats Emil Reich bemühte sich, die Landeskirche im gesellschaftlichen Wandel institutionell abzusichern. Aufgrund des Kirchengesetzes erarbeiteten Kirchenrat und -synode eine neue Kirchenordnung. Der Neuübersetzung der Zürcher Bibel liess Ruedi Reich traditionsbewusst und zielstrebig Förderung angedeihen. 2005 verlieh ihm die Theologische Fakultät der Universität den Ehrendoktortitel.
...gemeinsam mit Markus Notter
Dass die 17 Amtsjahre von Ruedi Reich im Zeichen der Neuregelung des Kirche-Staat-Verhältnisses standen, machte die Verabschiedung durch die Synode noch einmal deutlich: Mit Reich, der im Rollstuhl sass, wurde auch der zurückgetretene Zürcher Justizdirektor Markus Notter geehrt. Die beiden hatten die Sackgasse verlassen, in den der Streit um die historischen Rechtstitel führte (was hat die Kirche vom Staat bald 200 Jahre nach der Enteignung ihrer Güter als Entschädigung zugut?). Partnerschaftlich gingen sie daran, Zürcher Staat und reformierte Kirche, seit Zwinglis Zeit verbunden, weiter zu entflechten, und hielten auch nach dem Volks-Nein im November 2003 an diesem Ziel fest.
Das Ergebnis lässt sich sehen: Das Kirchengesetz, seit Anfang 2010 in Kraft, gilt für Reformierte und Katholiken; die Staatsbeiträge werden aufgrund der Mitgliederanteile ausgeschüttet, wodurch die bisher privilegierten Reformierten innert vier Jahren 14 Millionen weniger erhalten. Die Landeskirchen können sich intern selbst organisieren (Personalrecht). Zudem können nun auch ausländische Kirchenmitglieder in kirchlichen Angelegenheiten abstimmen und in Ämter gewählt werden.
Distanz und mehr Austritte
Die erneuerten institutionellen Sicherungen können nicht über die massiven Herausforderungen hinwegtäuschen, mit denen die reformierte Landeskirche und ihre Kirchgemeinden in der Gesellschaft konfrontiert sind. Die Säkularisierung prägt das Lebensgefühl in den urbanen Räumen an Zürichsee, Limmat und Glatt. In einer Vorstadt besucht an einem gewöhnlichen Sonntag bloss einer von zweihundert Reformierten den Gottesdienst. Viele Kirchenmitglieder stehen dem christlichen Glauben innerlich fern und halten Distanz zum Gemeindeleben (vgl. die neue Nationalfonds-Studie Religiosität in der modernen Welt).
2010 kehrten 4938 Reformierte der Zürcher Kirche den Rücken, erstmals über ein Prozent der Mitglieder. Als Gründe für die Rekordzahl der Austritte (+47 Prozent gegenüber 2009) werden das Nein der Landeskirche zum Minarettverbot und Skandale in der römisch-katholischen Kirche vermutet. Der Kirche Zwinglis gehören noch 34,5 Prozent der weiter wachsenden Zürcher Wohnbevölkerung an.
Einschnitt
Wegen der Schrumpfung muss die Kirche die Löhne ihrer Mitarbeitenden senken; das späte Nein der Synode im November 2010 zum Vorhaben des Kirchenrats, schon 2011 zu sparen, wird zu einem Einschnitt in der finanziell bisher verwöhnten Zürcher Kirche führen.. In der Synode war zu hören, dass für die Nutzung des Rathauses an der Limmat künftig eine Miete zu entrichten ist.
Zudem will der Kanton die Pfarrhäuser einzeln einschätzen, was die Wohnkosten steuerlich verteuern würde. Der Kirchenrat teilte am 15. März mit, dass die ökumenische Aids-Seelsorge weitergeführt, das dafür geschaffene Pfarramt indes aufgelöst wird. Für die Seelsorge an psychisch Kranken erwägt er ein stärkeres Engagement.
Tagung zum Gemeindeaufbau
Nach dem Wachstum landeskirchlicher Dienste in den letzten 20 Jahren (zahlreiche Spezialpfarrämter, mehr Spitalpfarrer) kommen die Kirchgemeinden wieder vermehrt in den Fokus. Gemäss der neuen Kirchenordnung (Art. 86) ist der Gemeindeaufbau den Verantwortlichen vor Ort aufgetragen. Anleitung,
Ermutigung und geerdete Tipps gabs im Winter an den Kirchenpflegetagungen im Bildungszentrum Boldern bei Männedorf (Vorträge und Workshops zum Gemeindeaufbau). An sechs Wochenenden nahmen 750 Personen teil. Wegen des starken Interesses wird die Tagung im Mai ein siebtes Mal durchgeführt.
Gemeinde auf eine zukünftige Welt gerichtet?
Der Organisator, der landeskirchliche Gemeindeaufbau-Beauftragte Pfr. Karl Flückiger, hält im gehaltvollen 32-seitigen Tagungsheft fest: "Kirche wird gebaut durch Gottes Geist, und Kirche bedarf der Leitung - Gemeindeaufbau traut Gottes Wirken und zugleich der eigenen Handlungsfähigkeit. Die einen betonen eher die Vertikale, andere die Horizontale - aber nie kann eine Gemeinde sich nur in der einen Dimension entwickeln."
Eine These zum Wesen des Gemeindeaufbaus im Heft lautet: "Christliche Gemeinde geht nicht auf im Zustand, der schon immer war. Sie behält eine kritische Distanz zu sich selbst, weil sie auf eine zukünftige Welt gerichtet ist."
Spenden erwünscht?
Um für den Gemeindeaufbau weitere Mitarbeitende anzustellen, sind in einzelnen Gemeinden Stiftungen oder Fördervereine gegründet worden. In Winterthur-Seen, wo dies geschah, trat im Herbst eine Pfarrerin zurück. Nach Medienberichten liess der Kirchenrat die Abläufe und namentlich den Einfluss der Stiftung untersuchen.
Auf eine Interpellation des EKF-Synodalen Karl Stengel zum "Unterstützen kirchlicher Aufgaben bzw. deren Finanzierung durch privatrechtliche Einrichtungen" antwortete der Kirchenrat, es dürften sich "aufgrund der Finanzierung einer Kirchgemeinde durch private Zuwendungen keine Abhängigkeiten ergeben". Die Landeskirche sei "als Volkskirche in ihrem Dienst der Offenheit gegenüber der ganzen Gesellschaft ... und keiner religiösen Subkultur verpflichtet" (mit Verweis auf KO Art. 5.2).
Die offene Grundhaltung bedeute vor Ort, "dass der Aufbau einer Gemeinde deren Vielfalt im Blick zu behalten hat". Seine Qualität lasse sich daran messen, "wie respektiert auch diejenigen sind, die nicht zur Kerngemeinde gehören". Die Zusammenarbeit von Gemeinden mit kirchennahen Institutionen ist laut dem Kirchenrat "nicht unbegrenzt zulässig". Es gelte "den kirchlichen Auftrag zu beachten, namentlich die Grundlagen der Landeskirche, ihr Bekenntnis (!) und ihr Verständnis als Volkskirche".
Andere Finanzierungen als steuerliche seien nur zu erwägen, wenn "innovative, zukunftsgerichtete und nachhaltige Projekte" am Finanzmangel zu scheitern drohten. Die Kirchgemeinden hätten ihren Auftrag "in erster Linie aus den Kirchensteuererträgen zu bestreiten".
Der Interpellant Karl Stengel kritisierte die Antwort des Kirchenrats. Die Sprache sei "retrospektiv, traditionalistisch und geprägt von Angst vor Neuerungen". Winterthur-Seen sei ein Testfall: "Wie farbig darf eine Kirchgemeinde sein?" Die Landeskirche habe noch keine Spendenkultur. Stengel bedauerte, der Kirchenrat habe es verpasst, Akzente in dieser Richtung zu setzen.
(Evangelisch-)reformiert
Zu reden gab in der Synode-Versammlung auch das neue Erscheinungsbild der Landeskirche. Gemäss der Kirchenordnung von 2009 ist es auch für die Kirchgemeinden verbindlich. Der Kirchenrat gibt für den Auftritt die knappe Wortmarke 'reformierte kirche kanton zürich' (für die Kirchgemeinde: 'reformierte kirche bülach') grafisch einfach blau/schwarz vor.
Die Gemeinden können ihr Logo dazu setzen. "Selbstverständlich sind wir weiterhin in erster Linie eine evangelische Kirche und erst in zweiter eine reformierte", schreibt der Informationsbeauftragte Nicolas Mori in Notabene, der Mitarbeiterzeitschrift der Kirche.
Für den raschen Auftritt sei 'Landeskirche' schwierig zu kommunizieren, sagte Kirchenrätin Jeanne Pestalozzi in der Synode. Die einheitliche Wortmarke ändert nichts an den Namen von Kirchgemeinden und Landeskirche.
Laut Mori gilt es, in der Informationsflut eine vermehrt gebündelte Kommunikation zu schaffen: "Nur wenn die Kirchen in Bereichen wie Themensetzung, Kampagnen oder visueller Auftritt vermehrt zusammenspannen, ist auch mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen." Die Wahl des Kirchenratspräsidenten, die in den Medien Wellen warf, ist vorbei...