«Wer sind die Samaritaner in unserem Dorf?»
„Als Volkskirche erreichen wir nur einen geringen Teil des Volks.“ Dies hielt der anglikanische Pfarrer George Lings bei einem Vortrag im Zürcher Oberland fest. Die Kirche habe viele Gründe, neue Formen von Gemeinde zuzulassen, zu gestalten und anzuerkennen. Christen heute sollten sich wie einst die erste Generation aus ihrer Komfortzone hinausführen lassen und Grenzen überschreiten.
Der anglikanische Theologe George Lings gehört zu den Pionieren der Gemeindegründungsbewegung in der Church of England. Gemeindepfarrer während 22 Jahren, leitet er seit 1997 das Sheffield Centre, eine Beobachtungs- und Forschungsstelle der Kirche. Das Netzwerk Fresh Expressions of Church (Neue Ausdrucksformen von Kirche) führt das „Church planting movement“ mit Unterstützung vieler Bischöfe weiter.
Man habe den Namen geändert, weil „Gemeindegründung“ als Begriff zu eng sei für die Vielfalt der neuen Gruppen und der Vorgänge an der Kirchenbasis, sagte Lings am 20. Mai im Kirchgemeindehaus Bäretswil im Zürcher Oberland. Die am Ort tätige Pfarrerin Sabrina Müller untersucht für ihre Doktorarbeit die „Fresh Expressions“. Wie viele von ihnen es gibt, konnte Lings nicht genau beziffern – über tausend landesweit.
Vom Heiligen Geist verändert
Um zu erläutern, was in der anglikanischen Kirche abgeht, zog der Pfarrer die Apostelgeschichte heran. „Die Kirche wurde verändert durch den Heiligen Geist und die Erfahrung der Mission.“ Die Voraussetzungen für die erste Missionsreise, zu der Barnabas und Paulus aus Antiochia aufbrachen, waren in den Jahren zuvor erlebt und geschaffen worden.
George Lings schilderte die Sprünge und Grenzüberschreitungen von Apostelgeschichte 8-12; die Kapitel verglich er mit unauffälligen Türscharnieren, die ein grosses Gewicht tragen. Durch die Verfolgung wurden die Christen aus der Gemeinschaft in Jerusalem „wie Vögelchen aus einem Nest hinausgestossen“. Die Kirche habe nicht darum gebeten, Gott aber habe die Erfahrung dazu benutzt, sie auszubreiten.
Immer verachtet, unversehens Brüder
Dass verachtete, synkretistische Samaritaner unvermittelt Christen wurden, schockierte die Judenchristen in Jerusalem. „Sie senden Petrus und Johannes hin, um zu prüfen, ob es koscher ist.“ Die Apostel erkannten Gottes Handeln in der Erweckung – dies obwohl die Samaritaner Jesus in ihrer Kultur nachfolgten. Die beiden predigten den Messias auf dem Heimweg in weiteren samaritanischen Dörfern – „kein gut jüdisches Benehmen“. Lings legte die Lektion, die die Apostel zu lernen hatten, auf heute um: „Wer sind die Samaritaner in unserem Dorf?“
Grenzen aufgebrochen
Der Heilige Geist hielt weitere „beunruhigende Lektionen“ bereit: Philippus wurde von Samaria abgezogen und auf eine einsame Landstrasse beordert, weil ein Minister aus Afrika von Jerusalem heimreiste. Infolge einer Begegnung gelangte das Christentum auf einen neuen Kontinent. Die Lektion: „Philippus wurde gesandt, um Menschen ausserhalb der bestehenden Gruppe zu kontaktieren.“
Als nächstes Damaskus: Da habe es keinen Alpha-Kurs gegeben, scherzte Lings, und keine Hausbesuche. „Gott wirft Saulus einfach vom Reittier. Jesus blendet ihn und rekrutiert ihn“, um seinen Namen auch unter nichtjüdischen Völkern und ihren Herrschern zu verkündigen. „Gott überrascht Saulus und die Kirche. Er bricht die Grenzen dessen auf, was wir für möglich halten. Er wählt Schlüsselpersonen für den Durchbruch aus.“
Ungereimtes in der Apostelgeschichte
Apostelgeschichte 10 erzählt eine eklige Vision von unreinem Getier. „Petrus kriegt seine koschere Diät nicht mehr hin. Gott zwingt ihn, seine eigenen Regeln zu brechen. Und dann, bei Cornelius, kann er nicht einmal fertig predigen. Die beschnittenen Gläubigen sind ausser sich: Der Heilige Geist wird ausgegossen auf diese Heiden. Nicht so, wie es sein sollte!“
Der britische Referent fragte die Anwesenden: „Wer sind die Cornelius-Figuren in unserer Gesellschaft, in unserem Dorf? Wie trefft ihr sie? Welche eurer Regeln müsst ihr vielleicht brechen, um sie zu treffen? Welche Überraschungen werden von ihnen zu euch kommen?“
Die Vorgänge in der Schlüsselgemeinde von Antiochien (Apg. 11-12) haben Ungereimtes. Eine kleine Kirche, die betet und fastet, hört von Gott. Mission wird nicht in Angriff genommen, nachdem die Kirche Ausschüsse gebildet und Theologen umfangreiche Papiere verfasst haben.
„Ohne sie um ihre Erlaubnis zu fragen, setzte der Heilige Geist zur Mission an. Dass die Christen in die Mission mit Gott hineingeworfen wurden, gab ihnen eine tiefere Sicht der Mission Gottes.“ Es war, so Lings mit britischem Humor, eine „Reise vom Bekannten über das Zweifelhafte zum Undenkbaren“.
Wer ist verletzt worden?
Heute gilt es, folgerte der Theologe, nicht in Jerusalem (= im Kirchenkuchen) zu bleiben. Immer weniger Briten gehen in die Kirche am Ort. „Für jeden, der in der Kirche ist, sind vier draussen.“ Mit Samaritanern, die die Juden nicht mochten und schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht hätten, habe der Wandel eingesetzt.
„In England müssen wir auch fragen: Wer sind heute die Samaritaner? Wer ist verletzt worden? Wer ist nicht hier, weil wir hier sind? Wie können wir mit ihnen in Kontakt kommen? Wie können sie Jesus entdecken? Wie wird die Kirche aussehen, die sie gestalten?“
Kirche als Bewegung
Für George Lings ist Kirche neu zu denken, nicht als Organisation mit einem Zentrum, sondern als Bewegung. Dass „fresh expressions“ befremden, gehört zur Natur der Sache: „Nicht jeder wird einverstanden sein mit dem, was du tust. Aber du folgst Jesus – du wirst Partner von Jesus. Du verlässt die Kirche nicht, sondern bringst Bewegung in sie zurück. Du beginnst Neues, damit die Kirche realisiert, dass sie als Bewegung gedacht war.“
„Ihre Geschichte hören“
In England beginnen entkirchlichte Menschen sich neu mit Christus zu befassen. Bisher enttäuscht, desinteressiert oder verletzt, lassen sie sich aufs Gespräch mit Christen ein. „Wir müssen ihre Geschichte hören, manchmal müssen wir fürs Verhalten der Kirche um Verzeihung bitten. Erst wenn sie uns zu vertrauen beginnen, können wir ihnen vom Glauben sagen.“
In Frauengruppen wächst Vertrauen. Lings schätzt ihre Bedeutung für ländliche Gebiete als hoch ein. In einem Video schildern zwei Surfer in Cornwall ihren Traum: „Kirche sein und dabei Fun haben!“ Die alte Kirche oberhalb des Strands präsentiert sich heute wie ein Café, mit Internet und Duschen: „ein Ort der Gastfreundschaft“.
Schubsen und Flüstern
Der Gemeindegründungsexperte aus Sheffield riet vom Kopieren ab. Es gebe kein Patentrezept. „Ihr müsst selbst herausfinden, was hier der Weg ist.“ Entscheidend ist die Wertschätzung: “Es gibt die in der Kirche versammelte Gemeinde (congregation church) und die Hausgemeinde (cell church) nebeneinander. Beide denken, dass es beide braucht. Keine sieht die andere als überflüssig an.“
Nicht-Theologen übernehmen Verantwortung, da der Pfarrer die Gruppen nicht alle leiten kann. Die Kirche solle Pioniere anerkennen und freisetzen, sagte Lings. „Fresh expressions“ seien oft sehr klein und verletzlich. In allem dürfe mit dem Heiligen Geist gerechnet werden: „So führt Gott: ein kleines Schubsen, ein Flüstern – und du fängst an dich zu fragen: Was bedeutet das?“
Der anglikanische Erzbischof Rowan Williams zur Bedeutung der „Fresh Expressions“ für die Kirche