Sollen sich die Kirchen einmischen?
Wie viel Religion tut der Gesellschaft gut? Die Frage steht im Hintergrund der Debatte um das politische Engagement der Kirchen. Im Wahljahr haben führende Vertreter beider Landeskirchen den Einsatz fürs Gemeinwesen als selbstverständlich bezeichnet. Anderseits verschaffen sich Gruppen, die die Kirchen aus der Öffentlichkeit verdrängen wollen, via Medien Gehör. Umstritten ist nicht zuletzt, wie Religion in der Schule vermittelt wird.
Was die Kirche zur Förderung des Gemeinwohls politisch soll und darf, wird derzeit schärfer debattiert. Medien bringen die Konfessionslosen als Gruppe ins Spiel; die Gewichte verschieben sich. "Selbstverständlich ist die Kirche politisch. Und zwar an vorderster Front", schrieb Abt Martin Werlen, der Medienbeauftragte der Schweizer Bischöfe, in einer Botschaft zum 1. August. Im April hatten SEK-Ratspräsident Gottfried Locher und SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli in einem Streitgespräch die Klingen gekreuzt.
Locher gegen Mörgeli: "Das Heil beginnt jetzt"
Die Kirche solle, fasste Mörgeli die SVP-Position zusammen, "allen Menschen zurufen: Ihr seid erlöst durch die Gnade Gottes. Nichts weniger und nichts mehr". Das sei ein riesengrosser Auftrag, "denn der Hinterste und Letzte muss dies erfahren. Die Kirche muss und darf das Evangelium verkünden - und soll nicht von der Kanzel vorschreiben, wie man abzustimmen hat".
Locher antwortete, von Parteipolitik müsse sich die Kirche fernhalten. "Aber ich widerspreche Ihnen vehement, wenn Sie Gnade und Erlösung auf das Jenseits eingrenzen wollen. Ohne Aussagen zum Hier und Heute ist das Evangelium von Jesus Christus kraftlos. Das Heil liegt nicht nur in der Zukunft, es beginnt jetzt. Und damit es beginnt, haben sich Christinnen und Christen gesellschaftlich einzumischen".
Wertevermittlung setzt öffentliches Wirken voraus
Locher zitierte aus dem SVP-Parteiprogramm, das die Kirche als Trägerin des christlich-abendländischen Kulturguts und als Sinnstifterin und Wertevermittlerin würdigt. "Aber das kann die Kirche doch nur sein, wenn man ihr einen politischen Auftrag zugesteht. Wir sind in der Nachfolge von Jesus Christus, der in seiner Zeit prononciert politisch gesprochen hat". Der SEK müsse seine politischen Stellungnahmen vom Evangelium her überzeugend begründen.
"Menschen unterstützen"
Die offensive 1. August-Botschaft des Einsiedler Abts Martin provozierte eine Online-Umfrage der Gratiszeitung "20 Minuten". Zwei Drittel der über 4'200 Antwortenden fanden, die Kirchen sollten sich nicht zu Wahlen und Abstimmungen äussern. Fast so viele meinten zudem, die Kirchen sollten in erster Linie "Menschen in schwierigen Situationen unterstützen und begleiten". Die Aufgabe, den Glauben zu vermitteln - in der Umfrage als Alternative hingestellt - wurde von bloss 27 Prozent priorisiert.
Umgang mit Muslimen besser ohne Kirchen?
Die Konfessionslosen, die 35 Prozent der Antwortenden ausmachten, wurden in der Auswertung der Umfrage gesondert aufgeführt. Deutlich sprachen sie sich gegen kirchliche Stellungnahmen zu Wahlen und Abstimmungen, gegen Parteien mit christlichem Wertefundament, gegen Empfehlungen der Kirchen zu Sexualität und gegen Positionsbezüge vis-à-vis dem Islam aus. Die Ausnahme bilden Asylfragen, wo Christen und Konfessionlose ein kirchliches Engagement bejahen. "20 Minuten online" erhob bei den Befragten die Konfession, warf aber bei den Fragen alle Kirchen in denselben Topf.
Wahlkampf für eine religionslose Schweiz
Anfang August haben Konfessionslose im Kanton Zürich eine Liste mit 34 Nationalratskandidaten eingereicht. Ihre Hauptforderung ist die Trennung von Staat und Kirche. Die Landeskirchen werden als "Staatskirchen" bezeichnet, denen sich immer weniger Schweizer verbunden fühlten. Religion zählt für die Gruppe zu den "ewiggestrigen Vorstellungen", die ins private Leben Einzelner gehörten. Menschen sollten erklärt bekommen, "wie Menschen funktionieren und wie Probleme gelöst werden können - ohne die vage Hoffnung auf Hilfe von oben", fordert etwa die Pflegefachfrau Nicole Spillmann.
Unter dem Titel der humanistischen Ethik gilt der Suizid den Konfessionslosen als "ultimative Form der Selbstbestimmung". Die Gruppe, der Parteilose und Personen linker und liberaler Parteien angehören, will "die Bedürfnisse der Konfessionslosen in die nationale Politik tragen". Dies auch weil religiöse Gruppierungen "das Rad der Zeit zurückzudrehen versuchten".
Politik mit "spirituellem Bewusstsein"
Die Pluralisierung der religiösen Szene in der Schweiz hält an. Religionssoziologen haben in einer Nationalfonds-Studie eine Zunahme der "Religiös Distanzierten" ausgemacht. Sie stellten mittlerweile fast zwei Drittel der einheimischen Bevölkerung. Die weiteren drei Gruppen sind Institutionelle (praktizierende Christen, gemäss Studie 17 Prozent), Säkulare (Atheisten und Agnostiker, 10 Prozent) und Alternative (9 Prozent).
Es überrascht nicht, dass auch die letzte Gruppe sich politisch formiert: Im Mai wurde (im reformierten Zentrum Bürenpark in Bern) der Verein Integrale Politik Schweiz gegründet, der sich sowohl als politische Bewegung wie auch als schweizerische Partei versteht. Die Bewegung will "in Eigenverantwortung und mitfühlender Solidarität unsere Gesellschaft zu neuen Ufern führen". Die Würde des Menschen dürfe "nicht dem Diktat der wirtschaftlichen Herrschaft überlassen werden", seine Entwicklung könne "nur im Gleichklang mit der Mitwelt und nicht gegen sie erfolgen".
ZH, GR: Firmen von Kirchensteuern befreien In den Kantonen Zürich und Graubünden haben die Jungfreisinnigen kantonale Volksinitiativen für die Abschaffung der Kirchensteuerpflicht für juristische Personen beschlossen. Die Kirchensteuerpflicht für Firmen sei ein sachfremdes Relikt aus dem Mittelalter, argumentieren die Jungparteien. Firmen könnten weder Kultuszwecken nachgehen noch seien sie in Kirchgemeinden stimmberechtigt. Die Forderung ist alt und im Zürcher Kantonsrat (wie in anderen Kantonen) mehrfach gescheitert. Im September 2010 erklärte das Bundesgericht in einem Fall aus dem Kanton Schwyz die Kirchensteuerpflicht für juristische Personen für zulässig. 20 von 26 Kantonen kennen eine Kirchensteuer für juristische Personen.
Das Ringen um Religionsunterricht
Wenn freidenkerische und alternative Ansätze in der nationalen Politik vorläufig wenig ausrichten, verschieben sie doch (vielleicht unmerklich) die Gewichte in wichtigen gesellschaftlichen Debatten. In der Deutschschweiz konkurrieren verschiedene Modelle von Religionsunterricht und Religionskunde miteinander. Bei der aktuellen Arbeit am Lehrplan 21 stellt sich die Frage, wie viel Eigenständigkeit die Kantone bewahren.
Sehr weit gegangen ist der am stärksten protestantisch geprägte Kanton Bern, der die Vermittlung von Wissen über Religion schon 1995 in den Fachbereich Natur - Mensch - Mitwelt einlagerte. Im Unterschied dazu konzipiert Zürich Religion und Kultur als neues eigenes Fach anstelle der früheren "Biblische Geschichte". Die Landeskirchen haben die Verantwortung für religiöse Bildung, die sie anderswo - namentlich im multikulturellen Basel - mit Erfolg tragen, in den beiden bevölkerungsstärksten Kantonen verloren.
Allen Leuten Recht getan
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Allerdings geht auch die säkulare Neuordnung des Religionsunterrichts, wie sie Zürich und Bern durchzuführen suchen, Freidenkern und Atheisten nicht weit genug. Die Zürcher Konfessionslosen lehnen das (obligatorische) Fach "Religion und Kultur" ebenso ab wie den früheren Religionsunterricht, von dem Eltern die Kinder abmelden konnten. Begründung: "Weltliche Sichtweisen werden ausgeblendet und es wird suggeriert, dass Religion wichtig im Leben eines jeden Einzelnen sei". Basiswissen über Religionen könne im Geschichtsunterricht vermittelt werden, behaupten die Freidenker.
Der in Freiburg tätige Religionswissenschaftler Ansgar Jödicke hat dieses Nein 2010 im Schlussbericht einer Nationalfondsstudie (S. 14) vorweggenommen. Für Atheisten und Freidenker sei, schrieb Jödicke, auch eine von religiöser Praxis und konfessionellen Inhalten freie "ethisch-zivilreligiöse Thematisierung von Religion... Teil des liberalen Christentums und deshalb Kennzeichen eines religiösen Unterrichts". Kurz: Zugleich religiös neutral sein - so wie es Freidenker fordern - und angemessen über Religion ins Bild setzen, wie es die Bevölkerungsmehrheit mit Fug erwartet, kann die öffentliche Schule nicht.