José Casanova: «Die europäische Sicht von Säkularisierung ist überholt»
Säkularisierung bringt nicht weniger Religion – mit Ausnahme Europas. In anderen Weltteilen ist der individuell angenommene und bekannte Glaube geradezu ein Kennzeichen der Modernisierung. Der Religionssoziologe José Casanova hat der Debatte um Religion in säkularen Gesellschaften die Richtung gewiesen. Im LKF-Interview äussert er sich zum Pluralismus in Nord- und Südamerika und zur Herausforderung Islam.
LKF: José Casanova, Säkularisierung setzt man in Europa weithin mit weniger Glauben und abnehmendem Einfluss der Kirchen in der Gesellschaft gleich. Warum ist diese Sicht Ihrer Ansicht nach überholt?
José Casanova: Die Säkularisierung, die sich hier ereignete, ist ein spezifisch christlicher Prozess, der die Kultur Europas voraussetzt. Die Aufklärung hat diesen spezifisch christlichen europäischen Prozess zu einem globalen Prozess stilisiert – als verliefe er überall vom Glauben zum Unglauben, von primitiver Religion zur Moderne. So meinen wir heute eine Erklärung zu haben, warum wir nicht mehr religiös sind – tatsächlich aber sitzen wir einer self-fulfilling prophecy auf.
Wie meinen Sie das?
Wenn Europäer und Amerikaner nach ihrer Religiosität gefragt werden, reagieren sie gegensätzlich: In Amerika geben sie vor, religiöser zu sein, als sie in Tat und Wahrheit sind. Sie nennen etwa eine zu hohe Zahl von Kirchenbesuchen – weil sie denken, dass sie als gute moderne Amerikaner religiös sein sollten! Die Amerikaner sehen sich als die modernste Nation der Welt – und modern heisst für die grosse Mehrheit, religiös zu sein.
Wird dem durchschnittlichen Europäer dieselbe Frage nach der Religion gestellt, reagiert er ganz anders: „Was glauben Sie, ich bin doch ein aufgeklärter, säkularer Mensch!“ In Spanien, wo die Säkularisierung besonders drastisch verlief und heute viel weniger Leute zur Kirche gehen, untertreiben die Leute: Auch jene, die noch religiös sind, stehen kaum mehr dazu. Europäer meinen, mit der Säkularisierung (= weniger Glauben) auf eine höhere Stufe der Entwicklung gelangt zu sein. Als würde Religion zu einer tieferen, primitiven Phase gehören.
Diese europäische Sicht von Säkularisierung ist überholt. Wir müssen sie in den geschichtlichen Zusammenhang stellen und relativieren. Zwar wurde das europäische Modell globalisiert, aber die Säkularisierung, die wir exportierten, produziert anderswo nicht weniger, sondern mehr Religion! In Amerika und anderswo werden die Leute im Prozess der Säkularisierung erst religiös. Da ist Religion in unserem Sinn etwas, was die Leute erst kriegen, wenn sie modern werden!
Aber sie waren doch schon religiös?
Die Moderne gründet auf einem säkularen Verständnis von Religion. In diesem modernen Sinne religiös zu sein, ist in nicht-westlichen Kulturen etwas Neues. Natürlich waren die Menschen religiös – aber ohne eine Religion zu „haben“: Sie wiesen keine religiöse, konfessionelle und denominationelle Zugehörigkeit im modernen Sinn des Worts auf. In einem solchen Kontext geschieht der Wandel zur Moderne oft durch Einschluss oder Beitritt zu einer bestimmten Religion.
In Europa tendieren wir dazu, moderne Individualisierung als Ablösung von einer Konfession zu erfahren. In vielen nicht-westlichen Kulturen ist das Gegenteil der Fall: Modernisierung besteht für Menschen gerade darin, dass sie als Einzelne eine bestimmte religiöse Identität annehmen, ein religiöses Individuum werden können.
Viele Brasilianer finden den Weg in evangelische Kirchen. Nun gibt es Beobachter, die vermuten, diese Prägung könnte sich als oberflächlich erweisen und einer säkularen Lebensweise den Weg bereiten.
Das ist eine hochnäsige europäische Sichtweise, die diese Leute nicht ernst nimmt. Es gibt genug Belege für eine starke Säkularisierung und Pluralisierung in Brasilien. Lateinamerika war katholisch – cujus regio, eius religio (Konfession vom Herrscher bestimmt, wie in Europa nach der Reformation). Und nun wachsen nicht nur pfingstliche und charismatische Gemeinschaften, sondern auch afrikanische Religionen – und neu gibt es viele Konversionen zum Islam: In Rio de Janeiro werden aus Menschen, die sich im Karneval fast völlig entblössen, Muslime, die ihren Körper verhüllen! Wir leben in einer globalen Gesellschaft, wo alle diese Formen von Religiosität gelebt werden können.
Während in Europa die Aufklärung griff, erlebte Nordamerika im 18. und 19. Jahrhundert grosse Erweckungen. Hier wurde Modernisierung und Säkularisierung nicht von Erweckungsbewegungen in Frage gestellt.
In Nordamerika verliefen Erweckungen parallel zu Modernisierung und zu politischer Demokratisierung. Wir Europäer erfuhren Religion als Unfreiheit, in der Enge von miteinander zerstrittenen Konfessionen. Wir wollen nun frei sein – frei von Kirche und Konfession. Die Amerikaner hatten zu Beginn keine Kirche. Im Zuge von Erweckungsbewegungen gewannen sie eine Identität in Denominationen – und gemeinsam eine demokratische, eine moderne Identität. Politische und religiöse Freiheit und Modernisierung gehen in Nordamerika zusammen, während wir Europäer aufgrund der Geschichte meinen, dass Religion und Modernisierung in Konflikt stehen.
José Casanova, Sie stammen aus Spanien…
…und da haben alle durch das Franco-Regime (1939-75) eine Konfessionalisierung erlitten: Nach dem Bürgerkrieg musste jeder (wieder) Katholik sein. Nun wollen fast alle Spanier weg von der Kirche, wollen modern sein – und ohne religiöse Bindung. In Spanien ist die Meinung besonders verbreitet, man müsse Religion hinter sich lassen, um modern zu sein. Die Abkehr von der katholischen Kirche und patriarchalen Traditionen zeigt sich auch darin, dass Spanien, Italien und Polen heute die niedrigsten Geburtenraten aufweisen.
Konvertiten zum Islam machen Schlagzeilen. Wie schätzen Sie diese Übertritte ein?
Nur ein ganz kleiner Teil der Europäer tut diesen Schritt. In den USA hingegen geben in der neuen Pew-Umfrage 38 Prozent an, sie hätten heute eine andere Religionszugehörigkeit als in der Kindheit. Über ein Drittel hat die Gemeinschaft gewechselt – das ist religiöser Pluralismus. Im Vergleich dazu gibt es in Europa nicht genug Pluralismus: Hier geben die Menschen dem Glauben der Väter den Abschied zugunsten eines säkularen Lebensstils – eine massive Konversion von einer homogenen konfessionellen zu einer homogenen säkularen Konfession.
Was prognostizieren Sie Europa?
Die aktuelle Überschuldungskrise lässt es als ungewiss erscheinen, ob die europäische Einigung Bestand hat oder wir zurück zu Nationalstaaten gehen. Rechtspopulisten in Nordeuropa gebärden sich nicht anti-muslimisch, sondern anti-griechisch!
Der Islam fordert uns Europäer heraus, unsere Identität zu klären: Was sind wir? Möglich sind zwei Antworten: Wir sind säkular – oder: wir sind Christen. Sowohl säkulare wie christliche Kräfte werden durch diese Prozesse gestärkt. Auch kulturelle Christen, die sich nicht religiös geben, grenzen sich als Europäer vom Islam ab.
Ist das nachhaltig?
Nein, denn es genügt nicht, bloss eine Gegenidentität gegen Muslime aufzubauen, nach dem Motto: ‚Wir sind nicht Muslime, sondern christlich – auch wenn wir nicht glauben‘. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das Verhältnis der Türkei zu Europa: Sie ist nicht christlich und neuerdings auch nicht mehr säkular. Eine säkulare Türkei hätte die EU akzeptieren können, wenn sie sich demokratisiert. Aber eine muslimische Türkei – auch wenn sie Demokratie verwirklicht – kann nicht in die EU aufgenommen werden, weil sie weder christlich noch säkular ist.
Die Diskussion um eine europäische Verfassung hat uns vor die Frage gestellt, ob wir uns christlich oder aufgeklärt-säkular verstehen. Ich meine: Wir sind beides – und müssen noch an unserer kollektiven Identität arbeiten. Da provoziert uns der Islam. Bisher ist wenig geschehen. Wie wurde der 500. Geburtstag von Jean Calvin – ein grosses Datum in der Geschichte Europas – gefeiert?
Was kann der interreligiöse Dialog zum Zusammenleben der Menschen beitragen?
Robert Bellah hat ein grosses Buch über Religion in der menschlichen Evolution geschrieben. Darin geht es um Achsenzeit. Jaspers sprach von Achsenzeit, um uns Europäer aus der Fixierung auf Rom, Athen und Jerusalem zu befreien. Die Universalgeschichte der Menschheit kann man nicht als europäische Geschichte schreiben. Gerade die Säkularisierung ist eine europäische Geschichte, die man nicht auf die ganze Welt projizieren kann.
Wir Europäer müssen erkennen, dass wir nur ein Teil des Ganzen sind. Unsere Kultur ist vom Glauben an einen Gott geprägt. Dies ist ernstzunehmen. Doch zur selben Zeit, als Athen und Jerusalem Geschichte machten, lebten Buddha und Konfuzius. Sie lancierten ebenfalls universale Projekte der Menschheit. Wir müssen uns gegenseitig anerkennen. Dieser Prozess meint nicht Relativierung der eigenen Religion. Die Religionen sind nicht gleich – aber alle sind menschliche Versuche, das Leben zu verstehen.
Wie legen Sie das Wort von Jesus „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ fürs 21. Jahrhundert aus?
Hüten wir uns davor, unser europäisches Christentum auf die Welt zu übertragen. In einem Projekt beschäftige ich mich mit den frühen Jesuiten. Sie waren immer im Auge des Sturms – und im 16. Jahrhundert gingen sie noch nicht von der Überlegenheit der Europäer aus. In China wurden sie Mandarine, in Maryland Sklavenbesitzer. In Paraguay gliederten sie sich in die Indianerkultur ein, in Indien in die der Brahmanen. Sie wollten Inder und Chinesen nicht portugalisieren, sondern ein chinesisches, ein indisches Christentum gestalten.
Drängt der Islam mehr als andere Religionen auf politische Verwirklichung und Geltung?
Halten wir fest, dass die Fusion von Religion und Politik bei Mohammed mit der heutigen Fusion im Islamismus nichts zu tun hat. Wir sehen diese Fusion heute auch in anderen Religionen: bei jüdischen Siedlern, bei Hindu-Nationalisten, bei radikalen Buddhisten auf Sri Lanka. Es scheint angezeigt, die aktuellen Fusionen nicht in der Gründerzeit der Religionen angelegt zu sehen, sondern sie als Ausdruck eines globalen Prozesses zu deuten.
Wenn Muslime in arabischen Staaten heute versuchen, neue demokratische Strukturen aufzubauen, müssen sie ein Modell finden. Sie reproduzieren aber kaum (auch wenn dies behauptet wird) die islamische Frühzeit, sondern lehnen sich ans europäische System von 1648 mit seinen konfessionell bestimmten Staaten an. Wir nehmen das schon gar nicht mehr wahr, weil wir säkular geworden sind – aber es ist unser Export.
Prof. José Casanova doziert Soziologie an der Georgetown University in Washington D.C. und leitet in ihrem Berkley Center das Program on Globalization, Religion and the Secular. Weltweit bekannt wurde er durch sein Buch Public Religions in the Modern World, in dem er Säkularisierungs- und religiöse Wandlungsprozesse in Polen, Spanien, Brasilien und den USA verglich.