«Vereint können wir eine Stimme sein»

Weist Grossbritannien Europa geistlich den Weg? Aufbrüche auf den Inseln, von denen einst die Christianisierung Westeuropas ausging, machen Mut. Diverse geistliche Impulse erreichen den Kontinent: der Alphalive-Kurs, neue Gemeinschaftsformen, charismatische Dienste. Die Britische Evangelische Allianz fördert das Miteinander von Christen und Leitern in der säkularen Gesellschaft nach Kräften. Der Allianzleiter Steve Clifford erläutert im Gespräch mit dem LKF, wie dies ihm hilft, für sein Land zu hoffen.

 

LKF: Wie schätzen Sie die Lage Grossbritannien ein?
Steve Clifford:
Ein Buch von Charles Dickens beginnt mit dem Satz „Die beste Zeit – und die ärgste Zeit“. Je nach Temperament werden Sie die Lage anders bewerten. Für mich ist es ganz aufregend, jetzt in Grossbritannien Christ zu sein. Während wir gewaltigen Herausforderungen gegenüberstehen, geschehen ganz aufregende Dinge. In einigen Landesteilen ist die Kirche von Christus gewachsen. Evangelicals halten sich oder legen deutlich zu.

Worauf führen Sie das zurück?
Bei den Lebenszeichen der Kirche finde ich wunderbar, wie Worte und Taten zusammen gehen. Eine neue Studie über die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hat ergeben, dass damals evangelikale Christen etwa 75% aller sozialen Leistungen erbrachten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zogen sich die Christen – aus welchen Gründen auch immer – aus der sozialen Verantwortung zurück. Sie verlegten sich auf die Predigt des Evangeliums im Gegensatz zur Mission Gottes, die das Handeln einschliesst.

Gott sei Dank für das, was dann in den 1970ern geschah, durch Billy Graham und John Stott und andere. Sie machten uns wieder bewusst, dass wir dem Leben, dem Dienst und der Lehre von Jesus nur dann treu sind, wenn Worte mit Taten zusammengehen. Seither bemüht sich die Kirche im Vereinigten Königreich zunehmend, die Gute Nachricht nicht nur zu verkündigen, sondern auch zu vorzuleben.

Wie geschieht das?
Vor einigen Monaten luden wir 150 christliche Leiter aus 50 britischen Städten zu einer dreitägigen Retraite ein. Es war höchst ermutigend, von ihnen zu vernehmen, was in den Städten geschieht: Leiter bauen Beziehungen auf, beten und essen miteinander. Auf dieser Grundlage fragen sie Gott gemeinsam, wie ein tiefgreifender Wandel in ihrer Stadt, eine Transformation, aussehen könnte.

Daraus erwachsen ganz unterschiedliche Initiativen – Dienste, die heute üblich sind, es aber vor 20 Jahren nicht waren: Nahrungsmittelabgabe, Obdachlosenunterkünfte, Strassenpastoren (für Nachtdienste), Hilfen zur Entschuldung, Unterstützung für Jugendliche und Betagte. In allen Bereichen macht die Kirche sich die Hände schmutzig. Und zugleich verkündigt sie das Evangelium.

Miteinander beten: 32'000 Christen versammelten sich am 29. September, dem Nationalen Gebetstag, im Londoner Wembley-Stadion.

Welchen Anteil hat die anglikanische Staatskirche, die Church of England?
Man kann es nicht auf einen Nenner bringen: Mehrere bedeutende anglikanische Gemeinden wachsen erkennbar, nicht nur die HTB-Gemeinde in London, sondern auch andere Innenstadtgemeinden. Andere Gemeinden kämpfen. Ich denke, dass heute die Pfarrer, die in den Dienst treten, in der Mehrheit evangelikal sind. Die Anglikanische Kirche wandelt sich tiefgehend. Sie steht vor massiven Herausforderungen und wird erschüttert von Kontroversen im Verhältnis zu anglikanischen Kirchen anderer Länder. Wer in eine verzweifelte Lage gerät, trifft eher radikale Entscheidungen.

In der Anglikanischen Kirche und darüber hinaus sehe ich den Willen, zu experimentieren und Risiken einzugehen. Unter ihrem Dach entstehen im ganzen Land „fresh expresssions“, neue Gemeinschaftsformen. Manche sind unordentlich (messy) oder chaotisch, so dass man sich fragt, ob das wirklich Gemeinde ist. Einige gehen wieder ein, andere nehmen einen Aufschwung. Mich freut jedenfalls, dass die Leute etwas ausprobieren und das Risiko nicht scheuen. Ob sie scheitern oder sich etablieren – Hauptsache, dass wir daraus lernen. Kurz: gravierende Probleme und viele Zeichen der Hoffnung.

Was tut die Evangelische Allianz in alledem?
Als ich vor drei Jahren die Leitung übernahm, ging es mir darum, den Auftrag und das Kerngeschäft der EA präzis zu bestimmen. Auf welchen Werten ruht unsere Tätigkeit, welche Formen soll sie annehmen? Das Kerngeschäft ist, Allianz zu sein – wie in den Anfängen. Nach einem Vorbereitungstreffen in Liverpool wurde die Evangelische Allianz 1846 in London gegründet. Damals, so entdeckten wir, stand der Ruf zur Einheit über allem. Einheit wie Jesus sie in seinem Gebet (Johannes 17) in Worte fasst.

Mir ist, als hätte mich dieses Gebet in den drei Jahren in Atem gehalten. Jesus weiss, dass er ans Kreuz geschlagen werden wird – und betet, dass seine Nachfolger eins seien, eins wie Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist sind. Und dies, damit die Welt glaubt. Was soll die Welt glauben? Dass Gott die Menschen liebt und Jesus vom Vater gesandt wurde. Wir haben dieses Gebet als Aufruf an uns, die Evangelische Allianz, verstanden. Es gibt uns den Fokus, die Einheit in Gottes Volk zu fördern, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern damit Gott seine Mission fortführen kann.

Wie setzen Sie diese Einsicht um?
Uns geht es um Einheit. Wir dienen der Kirche in der Überzeugung, dass sie – und nicht die Allianz – der Hauptakteur der Transformation ist. Die Frage ist also: Wie dienen wir der Kirche, damit wir alles sein können, was die Kirche sein soll? Daraus wächst unser Bemühen, der Kirche zu dienen, dass Christen zusammenfinden, wo immer das sein mag, lokal und national, um der Einheit Ausdruck zu geben, von der Jesus spricht.

Die Leiterretraite, die ich erwähnte, gab Momentaufnahmen solcher Einheit auf lokaler Ebene. Ein Pfarrer aus Southampton sagte, er habe die Stadt vor Augen, nicht bloss seine Kirche. Ich denke, da ist Gott am Wirken, oft ohne dass wir es wahrnehmen.

Auf nationaler Ebene versuchen wir Organisationen, die die Kirche unterstützen wollen, zu motivieren, dass sie sich abstimmen statt einander zu konkurrieren. Wir betonen gegenüber unseren Mitgliedorganisationen, dass wir dafür da sind, den Gemeinden zu dienen. Wir fördern Koalitionen und Foren, damit Zeit und Mittel wirksam eingesetzt werden. Zusammenarbeit soll die Norm sein.

Darüber hinaus ist die Britische Evangelische Allianz Sprachrohr der Christen in der Öffentlichkeit. Wie ist Ihr Auftreten in Ihrem Selbstverständnis verankert?
Unter uns haben wir eine Redensart: Ohne Einheit sind wir Lärm (noise), vereint können wir eine Stimme sein (voice). Wir glauben, dass Gott uns berufen hat, für die Kirche, die Gemeinschaft der Christen, eine Stimme zu sein. Gegenüber der Regierung, den säkularen und den christlichen Medien. Eine Stimme, die Gute Nachrichten erzählt. Denn Gott tut viel Gutes. Eine Stimme mit dem richtigen Tonfall und angemessener Körpersprache. Auch in Grossbritannien sind Christen nicht selten mit erhobenem Zeigefinger und gerunzelter Stirn aufgetreten. Wir nährten damit das Klischee unwirscher, selbstgerechter Frommer – ein Klischee, dem Christen landauf landab ja kaum mehr entsprechen.

Premier Cameron will mit der Losung „Big Society“ die Zivilgesellschaft stärken, wenn der Staat Leistungen abbaut. Sie steuern als Christen Hoffnung für ein besseres Zusammenleben bei?
Wenn wir unsere Stimme erheben, dann haben wir das Wohl aller Bürger im Auge, nicht bloss das der Christen oder der Religionsgemeinschaften. Wir arbeiten auf eine blühende (flourishing) Gesellschaft hin. Wenn wir an Regierung oder Medien Forderungen stellen, dann nicht bloss, um die Rechte von Christen oder von Evangelikalen zu schützen, sondern wir haben das Wohl aller vor Augen.

Steve Clifford ist seit 2009 General Director der Evangelischen Allianz im Vereinigten Königreich.

Website der Britischen Evangelischen Allianz