Fresh expressions in England – und in der Schweiz?
Die neuen Gemeindeformen in der anglikanischen Kirche Englands erlauben ein tieferes Verständnis von Kirche. Dies sagte der britische Theologe George Lings, Kenner der fresh expressions of church, Anfang November bei einem Besuch in der Schweiz. Lings stellte an einer Tagung der Zürcher Landeskirche die neuen Gemeindeformen in den Rahmen eines an der Trinität orientierten Kirchenverständnisses.
An der Abgeordnetenversammlung des Kirchenbundes in Bern unterstrich Rev. Dr. George Lings die Bedeutung von Erneuerungsbewegungen für die Church of England. Durch ihre Verschiedenheit weckten fresh expressions (frische Ausdrucksformen von Kirche) die Frage nach dem Gemeinsamen und Verbindenden, sagte er bei einem Empfang der Zürcher Landeskirche am 3. November. Allerdings seien – bei so viel Überraschendem – Fehler und Abstürze nicht zu vermeiden.
Der Forschungsleiter der kirchlichen Vereinigung Church Army in Sheffield verfolgt die Entwicklung der anglikanischen fresh expressions seit den 1990er Jahren. Auffällig ist für ihn, dass sich Menschen an diesen Orten einfinden, die von herkömmlichen Gemeinden gelangweilt sind oder der Kirche ganz fern stehen. Und: Fast die Hälfte der über 1000 Gemeinschaften in der Church of England wird von Nicht-Theologen geleitet.
Starten – wie bei der Heirat
Kirche müsse so einfach gestaltet werden, dass diese Leute nicht ausbrennten, sagte Lings, und sie bräuchten angemessene Schulung. David habe mit Sauls Rüstung nicht gegen Goliath antreten können. Der Brite machte Mut zum Experiment: „Es ist in Ordnung, zu starten ohne zu wissen, was passieren wird.“ Das sei bei jeder Heirat so. Viele fresh expressions gehen ein – “dann haben wir es immerhin versucht. Wir glauben, dass Gott in dieser Geschichte ist – er hat uns nicht verlassen.“
Missional und kontextbezogen
Der Empfang am Abend des 3. November folgte auf eine gutbesuchte erste schweizerische Tagung zum Thema. An ihr definierte Lings in seinem Vortrag fresh expressions mit Stephen Croft, dem Bischof von Sheffield, als „neue kirchliche Gemeinschaften für die Weitergabe des Glaubens an jene, die keiner Kirche mehr angehören“. Die Gemeinschaften seien anders als herkömmliche Kirche „missional und kontextbezogen“, aber gleichwohl „wirklich Kirche“, indem sie Menschen in die Nachfolge Christi führten: „Menschen, die ihm verpflichtet sind, ihm ähnlicher werden und andere zu ihm einladen.“
Statt Individualismus…
Der Theologe aus Sheffield, der bei der Erstellung des wegweisenden Berichts der Church of England Mission-shaped Church 2004 mitwirkte, kontrastierte den anhaltenden Niedergang der Kirche in der egoistischen Konsumgesellschaft mit den neuen Chancen. Kirchenleiter hätten Experimente befürwortet und neue Initiativen im church planting unterstützt. Der steife säkulare Gegenwind dürfe die Christen nicht ängstlich machen – „denn wenn wir ängstlich sind, teilen wir uns nicht gut mit. Entweder schweigen wir oder reden, bevor wir zugehört haben.“
…Gemeinschaft nach Gottes Vorbild
George Lings unterstrich, dass die Church of England die fresh expressions im Wesen des dreieinigen Gottes – und erst dann in seinem Handeln – begründet sieht. „Wir brauchen ganz dringend eine Kirche, die durch Mission ihre Gestalt erhält. Aber um wirklich den besten Weg dazu zu entdecken und die Kirche zu sein, die Gott will, sollten wir nicht mit Mission beginnen. Die Dreieinigkeit zeigt uns, dass am Anfang nicht missionarische Aktivität steht. Vielmehr geht Mission aus der inneren, liebevollen Gemeinschaft der drei Personen Gottes hervor.“
Mit der Betonung auf Gemeinschaft stünden die neuen Gruppen quer zum verbreiteten Individualismus, bemerkte Lings. Erst dann, wenn Kirche im tiefen Sinn und wirksam gemeinschaftlich sei, folge sie dem Vorbild von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist, trete in Beziehung zur Welt und mache ihr Eindruck.
Wende zur Mission in der Grosskirche
Vor den Abgeordneten des Kirchenbunds, die am 5. November in Bern tagten, skizzierte George Lings den Aufbruch zur Mission in der Church of England. Nach ihrer Gründung im 16. Jahrhundert habe sie Erneuerungsbewegungen über viele Generationen abgewiesen und erst in jüngster Zeit – mit Lesslie Newbigin als Impulsgeber – Grossbritannien wieder als Missionsgebiet entdeckt.
Das Verständnis für church planting, die Gründung neuer Gemeinden, habe sich seit 1980 entwickelt. Zahlreiche Erneuerungsbewegungen hätten dazu beigetragen. Im Vorwort zu Mission-shaped Church schrieb der anglikanische Erzbischof Rowan Williams, die Realität Kirche könne in vielfältigen Formen existieren: „Wir werden mit den Unterschieden zu leben haben.“
Mittlerweile werde anerkannt, dass fresh expressions das Wirken der herkömmlichen Ortsgemeinden ergänzen (complement), sagte Lings in Bern. Die Kirche sei noch am Lernen und mühe sich ab. „Weiterhin freuen wir uns und werden frustriert.“ Pioniere müssten ermutigt und geschult werden. Die Church of England hat ihre Ordnungen geändert, um ortsübergreifende Initiativen anzuerkennen.
Über den Zaun hinaus
Wie bedeutet das Wachstum der fresh expressions für die Schweiz? Beim Zürcher Empfang am 3. November nahm Kirchenratspräsident Michel Müller das herbstliche Bild der Pilze zu Hilfe. Zunächst habe die Landeskirche das Klima zu bereiten, dass Neues aus dem Grund hervorschiessen könne, und es zuzulassen. Dann müsse die Kirchenleitung allerdings die geniessbaren von wunderschönen und doch giftigen Pilzen unterscheiden.
Die Zürcher Landeskirche wolle „die Kirchgemeinden vergrössern, damit Freiräume entstehen, damit etwas wachsen kann“, sagte Müller. Die Milieustudie habe Lebenswelten vor Augen geführt. „Wir wollen nicht fresh expressions züchten, sondern vertrauen darauf, dass sie aus dem Boden hervorgehen.“ Und da könnten die Zürcher Reformierten von England lernen. „Wir sind im Nebel – ein wunderbares Klima, damit Pilze wachsen können.“
In der Diskussion erinnerte IGW-Rektor Fritz Peyer an die Schweizerische Evangelische Synode SES in den 1980er Jahren. Schon damals habe man diskutiert, wie reformierte Gemeinde anders als durch politische Grenzen bestimmt werden könnte. Peyer wünschte der Landeskirche, dass sie vielfältige Gemeindeverständnisse zulässt. Für Pfarrerin Sabrina Müller, die sich ihrer Doktorarbeit an der Uni Zürich mit den britischen fresh expressions befasst, behält die Ortsgemeinde ihre Bedeutung.
In vitale Gemeinschaften investieren
Laut George Lings zeigen die Erfahrungen in England, dass herkömmliche Gemeinde und neue Gemeinschaften sich überlappen. Die allermeisten fresh expressions sind in bestehenden Kirchgemeinden entstanden, indem Christen Neues lancierten, etwa eine messy church (lockere Spiel- und Gottesdiensttreffen für Familien mit kleinen Kindern).
Der Brite mahnte, bei den Kosten für Personal und Infrastruktur der Kirchgemeinden nicht die Förderung von Pionieren zu vergessen. Laut Matthias Krieg, dem theologischen Sekretär des Zürcher Kirchenrats, muss die Landeskirche nicht auf Territorialität achten, sondern auf Vitalität setzen, wenn sie ihre Investitionen plant. „Wo ist Potenzial für neue Aufbrüche?“
Andere Aufgaben für Leiter
Fritz Peyer sieht grosse Herausforderungen für die Ausbildung: Kirchlich Mitarbeitende müssten geschult werden, fresh expressions als Prozess zu denken. Matthias Krieg zeigte sich beeindruckt vom hohen Engagement vieler, das er bei Besuchen in England erlebte: „Je vitaler eine Community, desto mehr beteiligen sich Menschen, desto weniger lastet auf dem Pfarrer.“
George Lings betonte: „Vertrauen, Beziehung, Verantwortlichkeit und der Wille, zueinander zu gehören, sind sehr wichtig.“ Er deutete an, dass Pfarrer auch in der Church of England ihre Aufsichtsaufgabe zu kontrollierend wahrgenommen haben. „Heute sagen einige ihren Leuten: Ihr wollt Kirche – ihr macht, dass sie passiert.“ Es gelte, die Pioniere vor den Bedenken und dem Argwohn der Traditionalisten zu schützen. „Die wenigen schaffen die Unruhe, die uns Not tut.“ Friedhofruhe könne das Ziel nicht sein. „Wahrscheinlich sind wir zu furchtsam.“
A Mixed Economy for Mission – the Journey so Far (Folge-Bericht 2010)
Church Army-Forschungsstelle in Sheffield