Womit ersetzen Schweizer das Christentum?
Schweizerinnen und Schweizer schöpfen ihren Lebenssinn zunehmend aus nichtchristlichen Quellen. Die Aussage im neuen Buch über Religionstrends führt zur Frage: Was schöpfen sie? Und was macht das mit den Landeskirchen? Wie reagieren die Reformierten darauf, dass letzter Sinn zunehmend in irdischen Erfahrungen und Gütern gesucht wird? Wir haben Pfarrerinnen und Pfarrer um Statements gebeten.
«Jede neue Generation ist etwas weniger religiös als die bisherigen. (…) Für die Individuen bedeutet die ständig zunehmende religiöse Säkularisierung und Individualisierung, dass sie ihren Lebenssinn zunehmend aus anderen, nichtreligiösen Quellen schöpfen.» Die zwei Sätze aus dem Buch «Religionstrends in der Schweiz» (Resumé der Befunde hier) führen zur Frage, was die Menschen unseres Landes aus anderen Quellen schöpfen. Was tritt an die Stelle des Glaubens? Womit ersetzen Schweizer das Christentum, das den Vorfahren den Rahmen fürs Leben gab?
Die Religionswissenschaftler registrieren, dass mehr Leute im Land sich als spirituell bezeichnen, dass sie «Spiritualität» an die Stelle des christlichen Glaubens setzen, der in einer Kirche gelebt wird. Spiritualität kann sich auf etwas Überweltliches oder etwas Irdisches richten; sie «kann religiös, religiös-säkular hybrid oder säkular sein.» (Jörg Stolz u.a., Religionstrends in der Schweiz, Wiesbaden 2022, 9. Wichtige Thesen des Buchs hier)
Säkularisierung vs. Sakralisierung
Der Religionsphilosoph Hans Joas und andere stemmen sich gegen die lange dominante Soziologen-These, die Säkularisierung sei ein unaufhaltsam fortschreitender Prozess. Joas spricht in seinem Buch «Die Macht des Heiligen» von Sakralisierung: Menschen werden über sich selbst hinausgeführt; sie fühlen sich gedrängt, etwas für heilig zu halten – sei es (einst) die Nation, die Kultur, die Vernunft, seien es heute gewisse Werte, die Menschenwürde, Macht. Man könnte die Liste fortsetzen: die Dynamik des Marktes, der Sportclub, Diversity, Erfahrungen von Energie, die Biosphäre, das Klima …
Was steht zuoberst?
Was ist den Schweizerinnen und Schweizern heilig? Was gewinnt primären Rang? Die Fragen sind zu stellen – ohne auszublenden, dass die überkommenen Glaubens- und Lebensformen des Christentums noch in einer Minderheit gelebt werden und auf den Rest abfärben. Scheinbar weniger, aber sie tun es noch. Gibt es Ersatz ohne Schmerz über das Verlorene, ohne die Ahnung vom Original?
Der Prophet Jesaja formulierte eine ätzende Kritik an der Religiosität seiner Zeit, die heute noch trifft: Menschen nehmen ein Stück Holz und teilen es: Den einen Teil verfeuern sie, um sich zu wärmen; aus dem anderen fertigen sie ein Götzenbild, vor dem sie anbetend niederfallen (Jesaja 44,15-17). Ist dies heute anders? Verblasst der Glaube an Jesus Christus, wird anderes wichtig und das Leben darauf ausgerichtet.
Gefragt ist die Theologie
Die Soziologen beschreiben, so aufschlussreich ihre Werke sind, nur eine Seite der Medaille, weil sie sich an Mess- und Vergleichbares halten (und die Fragen nach der religiösen Praxis nicht alles erfassen). Daher haben wir reformierte Theologinnen und Theologen gebeten, die Religionstrends zu kommentieren. Was tritt nach ihrer Wahrnehmung an die Stelle des Glaubens und wie verändert sich die Glaubenspraxis bei denen, die in der Kirche bleiben? Wie sollten die Kirchen reagieren? Was ist zu tun – in der Gemeinde, in Pfarrkapiteln, in den Kantonalkirchen, in den Medien, der Öffentlichkeit?
Sie finden hier Statements von Barbara Pfister, Bernhard Rothen, Alex Kurz, Paul Kleiner, Sabine Aschmann, Ivan Walther und Wolfgang von Ungern-Sternberg.
Die Bilder deuten einige Optionen auf dem aktuellen Sinnmarkt an.
Barbara Pfister
Sind wirklich mehr Schweizer nicht mehr Christen? Abgesehen von der religiösen Durchmischung unserer Gesellschaft (auch durch Migration): spirituell zu sein statt Christ und aus verbindlichen Strukturen auszutreten, ist Trend. Aber heisst das, dass alle diese Leute vor 30-50 Jahren wirklich Christen waren? Besuchten nicht vor 70 Jahren einfach mehr Menschen den Gottesdienst, weil Tradition und Kultur es geboten und es am Sonntag Morgen kein spannenderes Angebot gab? War nicht einfach der soziale Druck da, das Kind taufen zu lassen?
Heute ist der christliche Glaube mit der Kirchenzugehörigkeit eine Option unter vielen. Die Gesellschaft schreibt uns nicht mehr vor, was wir zu tun und zu lassen haben. Doch ich habe nicht den Eindruck, dass Menschen diese neue «Leere» als Verlust empfinden und daher bewusst etwas an die Stelle setzen. Glaube ist eher eine «nicht (mehr) gewählte Option».
Was können wir dagegen tun in unseren Gemeinden, Pfarrkapiteln etc.? Ich glaube, die einzige, passende Reaktion ist dieselbe wie damals zur Zeit der Propheten: Der Ruf zur Umkehr – Jesus Christus wieder zum Leuchten bringen. Das wird weder unsere Kirchenaustritte aufhalten noch die grossen Massen Europas wieder zu «Christen» machen, aber vielleicht überlegt der eine oder die andere sich die Option der Nachfolge Jesu.
Barbara Pfister, Pfarrerin in Wetzikon ZH
Bernhard Rothen
Im Übergang zur Moderne gab es grosse Projekte, wie die Kirchen durch neue moralische Anstalten ersetzt werden sollten (die Schaubühne, die Olympischen Spiele, Museen und Freizeitparks, zivilreligiöse Feiertage etc.). Das ist ein Flickwerk geblieben. In der Schweiz entfaltet die Nationalsaga von Wilhelm Tell, die von den Freisinnigen lanciert wurde, trotz allen Dekonstruktionen noch immer eine erstaunliche untergründige Kraft – vielleicht gerade weil sie es erlaubt, ein bisschen patriotisch und skeptisch zugleich zu sein, eben pragmatisch.
Für das alltägliche Lebensgefühl sind zwei Dimensionen entscheidend: Zum einen die Naturromantik, die Verehrung einer höheren Macht, die man auf Wanderungen und Weltreisen pflegt. Und mehr noch die Gesinnungsethik: dass man für das Gute und gegen die Bösen ist, also für die Toleranz und Inklusion, gegen die Klimaerwärmung und für die Rettung der Menschheit etc.
Darin lebt die reformatorische Rechtfertigungslehre in säkularer Form fort: Beim selbstkritischen Nachdenken ist allen bewusst, dass sie auch heucheln und sich selber ständig Ausnahmen zugestehen (beim Heizen, Autofahren, in der effektiven Gleichgültigkeit gegenüber den realen Flüchtlingen oder anderen geplagten Mitmenschen). Doch gerecht fühlen sie sich nicht durch das, was sie tatsächlich Gutes tun, sondern durch den Glauben, die gute Absicht, die sie zweifellos haben (und die sie anderen, Bösen, absprechen). Insofern ist die Zeitungslektüre – oder heute eher der Blick in die Sozialen Medien – noch immer das Morgengebet der modernen (und postmodernen) Menschen, wie Hegel konstatiert hat.
In den Gemeinden, Pfarrkapiteln, Kantonalkirchen, Medien etc. muss darum dieses Eine im Zentrum stehen: die apostolische und prophetische Kritik an der Selbstgerechtigkeit (Römer 1-3 und 7, Jesaja 5 und viel, viel anderes) und das Lob des Schöpfers, das daran erinnert, dass er seine Schöpfung preisgegeben hat, so dass alle Kreatur seufzt (die Vögel, die lieblich singen und unbarmherzig gejagt werden etc.).
Bernhard Rothen, Dr. theol., zuletzt Pfarrer in Hundwil AR, Effretikon
Alex Kurz
Der Fehler ist passiert, als christliche Theologen im 19. Jahrhundert begannen, die (damals christlich geprägte) Religiosität des aufgeklärten Bürgertums als legitime Spielart des christlichen Glaubens zu propagieren. Statt die Defizite eines Christentums aufzuzeigen, das nicht mehr von einem klaren Christusbekenntnis getragen war, statt also zur Metanoia aufzurufen, zu Umkehr und Busse, wurde der Restbestand an Christlichem im Bürgerlichen schönfärberisch aufgewertet.
Dieser fatale Schritt der liberalen Theologie macht heute theologisches Argumentieren gesellschaftlich praktisch wirkungslos: Wie soll eine Gesellschaft, die gelehrt wurde, Religiosität als legitime Form von Christentum zu verstehen, am Christlichen festhalten, wenn sie sich vom Religiösen löst?
Wir müssten den Mut haben, die liberale Theologie von ihrem ganzen Denkansatz her als Irrtum zurückzunehmen und darüber Busse zu tun: Metanoia.
Alex Kurz, Dr. theol., Pfarrer in Rohrbach BE
Paul Kleiner
Der Antagonismus zwischen Gott und Götzen in der Bibel ist unübersehbar. Gleichzeitig gibt es Brücken und Anknüpfungspunkte zur Gesellschaft, den Menschen, ihren selbstgebastelten Wegen; nicht nur radikale Bekehrung mit Sturz vom hohen Ross, sondern auch Wege, kleine Schritte zu Jesus Christus und im Glauben an ihn.
In der Praxis begegnet mir die «selbstgebastelte Religiosität» meistens als «Christentum light» – oder sogar «very light». Es stimmt: Verblasst der Glaube an Jesus Christus, wird anderes wichtig und das Leben darauf ausgerichtet. Das trifft nicht nur auf Konfessionslose zu, sondern leider auch auf einige, die dogmatisch orthodoxe Christen sind, und auf die erwähnten «Christen light».
Selten scheint mir aber ein klarer «selbstgemachter Götze» an die Stelle von Christus zu treten. Der Himmel bleibt eigentlich leer und die Leerstelle wird dann mit X und Y aus dem 2. und 3. Rang gefüllt, was aber nie jene Loyalität (von Seiten des Menschen) und Tragkraft (von der anderen Seite) bewirkt, die dem Begriff «glauben» eignen. Viele wursteln sich recht gut in ihrer Selbstbezogenheit durchs Leben ohne wahre re-ligio, Rück-bindung an etwas/jemand Anderen. Doch was immer ein Mensch sich als selbstgemachten Gott bastelt, trägt nie das «Gewicht» (hebr.: kabod, Herrlichkeit, wörtlich: Schwere) des wahren Gottes.
Was tun? Es bleibt der biblische Doppelweg des missionarischen Wirkens; darüber kommen wir nicht hinaus. Die AT-Propheten wandten sich vor allem gegen Missstände im Volk Gottes und nahmen da kein Blatt vor den Mund. Ihr Anliegen war immer Umkehr, nicht Zementierung des Ungehorsams. In der missionarischen Verkündigung im NT nach aussen war die Einladung, zu Christus umzukehren, mit klaren Worten gegenüber heidnischer/götzendienerischer Praxis verbunden (Paulus in Lystra und in Athen, Apostelgeschichte 14; 17).
Paul Kleiner, Dr. theol., Pfarrer in Pfäffikon ZH
Sabine Aschmann
Wenn mehr Schweizer nicht mehr Christen sind, was tritt an die Stelle des Glaubens? Ich nenne drei Entwicklungen.
1. Subjektive Gottesbilder und beliebige Theologie
Sie lehren eitel falsche List / was eigen Witz erfindet / ihr Herz nicht eines Sinnes ist / in Gottes Wort gegründet / der wählet dies, der andre das / sie trennen uns ohn alle Mass / und gleissen schön von aussen. (Martin Luther nach Psalm 12 – 1524; im RG 9,2)
Wie das kaum mehr gesungene Gesangbuchlied Luthers belegt, ist die heutige subjektive Patchwork-Religiosität eine Neuauflage älterer theologischer Verirrungen. Die frühere Gottesfurcht ist durch einen absolut gesetzten Wertepluralismus ersetzt worden. Dieser wird durch eine fanatisch verteidigtes Toleranzdiktat aufrecht gehalten. Als normative Grösse gilt nicht mehr Gottes Gesetz oder Selbstverantwortung, sondern der gesellschaftliche Konsens der Mediengemeinschaft.
2. Gnosis
Der gnostische Geist der Spätantike war eine der grössten inneren Gefahren des frühen Christentums. In neuen Auflagen gewinnt die Gnosis heute weiteren Raum. Der Kirchengeschichtler Armin Sierszyn definiert Gnosis als «höhere Weisheit und Erkenntnis mit religiösem Einschlag, die den ganzen Menschen auf eine höhere geistige Stufe hebt» (Das Alte Testament und die Zukunft Europas, S. 24).
Anstatt sich unter die Weisheit Gottes zu demütigen, die sich im Kreuz offenbart und im prophetischen Wort gründet, beruft sich der Mensch auf sein eigenes Denken und Wollen, Gutheissen und Empfinden. Der biblische Glaube wird vom kritischen Bewusstsein gnadenlos dekonstruiert. Diese Tendenz ist nicht neu, aber das religiöse Selbstbewusstsein der selbstherrlich denkenden postchristlichen Gesellschaft ist es schon.
3. Verschwörungstheorien
Verschwörungstheorien verschiedenster Art breiten sich aus. Die Angst geht um, in den gegenwärtigen Bedrohungen an wenige machtvolle Gruppierungen oder Personen ausgeliefert zu sein. Die Überzeugung, dass aus böswilligen Plänen von Einzelnen insgeheim eine weltweite Bedrohung ausgeht, hat religiöse Qualität angenommen. Dies erinnert an die Hexenjagden und den Aberglauben vergangener Zeiten. Verschwörungstheorien kommen überall dort auf, wo man sich in Krisen nicht mehr an Gott zu wenden vermag, der allein krisenfest ist.
Sabine Aschmann, Pfarrerin in Schlatt TG
Ivan Walther
Das Wort Gottes hatte es immer schwer. Nicht nur die biblischen Propheten bezeugen es, sondern auch die Psalmen, die Bücher Mose oder die Passionsgeschichte erzählen uns, dass die Menschen immer wieder Gott ausblenden und es vorziehen, auf sein Wort nicht zu hören. Was für die biblische Zeit gilt, bleibt auch in der Kirchengeschichte ein Dauerthema. Immer wieder braucht es Menschen und Bewegungen, um die Getauften zum wahren Glauben zurückzuführen. Insofern gibt es nichts Neues unter der Sonne, theologisch gesprochen. Man sollte sich auch davor hüten, die Frömmigkeit vergangener Zeiten idealisieren zu wollen. Wie es um den Glauben in der Schweiz stand und steht, weiss Gott allein. Auswertung von Umfragen und historische Forschungen können darüber kaum oder nur beschränkt Auskunft geben.
Andererseits befinden sich unsere Gesellschaft und die ganze Welt in einer äusserst extremen Zeit voller Veränderungen. Seit der Industrialisierung unterliegen unsere Gewohnheiten und das Zusammenleben insgesamt einem stetigen Wandel. Nicht nur das Tempo der Veränderungen wird von Jahrzehnt zu Jahrzehnt atemberaubender. Auch der Wandel an sich betrifft immer mehr Bereiche der Existenz und nimmt an Radikalität zu.
In diesem Kontext wundert es nicht, dass auch Religiosität und Spiritualität keine Ausnahme bilden, sondern sich auch im Wandel befinden. Was einst fast selbstverständlich erschien, wird aufgrund der «Grosswetterlage» logischerweise auch in Frage gestellt, sowohl unter formalen Kriterien (Kirchenzugehörigkeit, Glaubenspraxis) wie auch in inhaltlicher Hinsicht (z.B. Bibelprimat, christliches Gottesbild).
Beide Aspekte, sowohl die charakteristischen Schwierigkeiten des Wortes Gottes auf dieser Welt als auch die aktuellen Veränderungen in ihrer Radikalität, sollten nicht dazu führen, die Feststellungen aus dem neusten Buch zu den Religionstrends in der Schweiz als nichtig zu betrachten. Auch wenn das Christentum nicht zu ersetzen ist, sowohl aus theologischen Gründen (das Seelenheil wird von der transzendenten Gottheit definiert und angeboten) als auch in kultureller Hinsicht (die abendländischen Werte sind im Grunde christlich), gibt es dennoch genug Grund zur Sorge angesichts der Thesen und Zahlen, die im erwähnten Buch zu den Religionstrends in der Schweiz präsentiert werden. Sie entsprechen nicht nur vielen Erfahrungen, die in den Gemeinden von kirchlich engagierten Menschen gemacht werden, sondern sie verlangen dringend – neben der Thematisierung im Rahmen theologischer und kirchlicher Kreise – auch eine Reaktion, gefolgt von geeigneten Gegenmassnahmen.
An diesem Punkt muss meines Erachtens eine wichtige Unterscheidung vorgenommen werden: Im Unterschied zu den kirchlichen Antworten lassen sich die theologischen Reaktionen nicht verordnen oder gar planen. Bei der Theologie können Ermutigung und Gebet am ehesten helfen, dass der Geist Gottes auch heute noch Stimmen und Köpfe findet. Denn eine angemessene Verkündigung des Evangeliums für unsere Zeit und für heutige Menschen tut Not.
Diese liegt prinzipiell in der Verantwortung eines jeden Getauften, aber in der Pflicht stehen in erster Linie jene, die kirchliche Ämter bekleiden und/oder kirchliche Berufe ausüben. Sie sollen nach bestem Wissen und Gewissen das Wort Gottes so weitergeben, damit es seinen Zweck im Hier und Jetzt möglichst optimal erfüllt. Doch insgesamt darf nicht erwartet werden, dass z.B. mit einer Werbekampagne oder mit der Durchführung einer Disputationsveranstaltung viel erreicht werden kann. Mag beispielsweise das Legislaturziel des Zürcher Kirchenrates, über Gott reden zu wollen, sehr lobenswert sein, so folgen Gelingen und Erfolg nicht automatisch aus den Anstrengungen und Bemühungen darum.
Anders sieht es bei kirchlichen Antworten und Massnahmen aus, zu welchen die Thesen und Analysen aus dem Buch führen müssten. Hier ist die Kirchenpolitik gefragt. Ein Wegschauen und Weitergehen, als könnte die Situation nur hingenommen werden, wäre ein fahrlässiges und unverzeihbares Versäumnis. Die oft gehörte Feststellung, die Landeskirche werde halt kleiner, älter und ärmer, kann z.B. nicht als Antwort der Kirchenpolitik durchgehen. Resignation, Gleichgültigkeit oder gar Fatalismus dürfen nicht länger die Haltung von Kirchenleitungen, Pfarrpersonen und Mitarbeitenden vergiften.
Viel zu lange haben Kirchgemeinden und Landeskirche die Austritte ihrer Mitglieder hingenommen, ohne etwas dagegen unternehmen zu wollen. Während z.B. der TCS ehemalige Mitglieder mehrmals pro Jahr mittels einer Werbesendung zu einer Rückkehr bewegen möchte, nehmen die Kirchen es hin, dass mit austrittswilligen Mitgliedern nach einem Bestätigungsbrief keinerlei Kontakt aufgenommen werden dürfe, um z.B. die Gründe und Vorteile der Mitgliedschaft darzulegen und für einen möglichen Wiedereintritt zu werben.
Wenn den Landeskirchen die Mitglieder davonschmelzen und wenn viele Eltern ihren Kindern den Bezug zur Kirche und damit zum Glauben nicht mehr weitergeben, so ist dies auch zum grossen Teil eine Folge einer falschen Politik, die vielleicht aus Bequemlichkeit sich nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit den Problemen gewidmet hat, die sich schon seit längerer Zeit abgezeichnet haben. Was müsste unternommen werden? Welche Massnahmen wären angezeigt und sinnvoll? Dies wäre die erste Diskussion, die es zu führen gälte. Doch solange die oben erwähnten, negativen Haltungen dominieren, unwidersprochen bleiben und toleriert sind, sehe ich schwarz.
Zwei Aufgaben sind meines Erachtens dringend: Erstens, die Formulierung der Gründe und die Benennung der Vorteile, die für die Mitgliedschaft in der Landeskirche sprechen. Dies nicht nur für die Einzelperson, sondern auch unter Aspekten, welche mehr die Kollektivität betreffen (z.B. Bewahrung von Kultur, Schutz vor Verschwörungstheorien oder Sektenmissionierung, Stärkung von Werten mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung etc.). Zweitens, die Ausarbeitung von Strategien, um den Kontakt mit den Mitgliedern zu optimieren und die Beheimatung in der reformierten Kirche zu stärken.
Dies gilt insbesondere dann, wenn Mitglieder Eltern werden, wenn für Kinder die Schulzeit beginnt oder z.B. wenn jemand in Pension geht. Beide Aufgaben können, ja müssen auf mehreren Ebenen angepackt werden (Gemeinde, Bezirk, Landeskirche, EKS). Aufgrund der Dringlichkeit und der Wichtigkeit, dass die Kirchen endlich etwas gegen den Mitgliederschwund tun, sind ein koordiniertes Vorgehen, der Austausch von Erfahrungen oder die Anvisierung von gemeinsamen Lösungen sicherlich zu fördern und von Vorteil für alle Beteiligten.
Nachdem es in der Zürcher Landeskirche Entwicklungen gab, die meines Erachtens kontraproduktiv waren, namentlich z.B. die Förderung von Fusionen durch die Strukturreform «KirchgemeindePlus», haben Kirchenrat und Synode im laufenden Jahr Massnahmen beschlossen, die dem Ziel, den Mitgliederschwund aufzuhalten oder gar umzukehren, besser dienen. Ich denke an die neue Regelung zu Kirchgemeinschaften oder an die Einrichtung eines Innovationskredits für zukunftsfähige Gefässe reformierter Religiosität und Spiritualität. Dies wird zwar keineswegs reichen, es braucht weitere Anstrengungen und Massnahmen auch auf ganz anderen Ebenen, um die Trends in eine andere Richtung lenken zu können.
Auf der Ebene der Landeskirche könnte eine davon sein, dass die Wahlkirchgemeinde nach dem Schaffhauser Modell eingeführt wird. Neben den oben dargelegten zwei Aufgaben stehen viele weitere Anstrengungen und Massnahmen an, z.B. um die Selbstverständlichkeit und Attraktivität der Konfirmation nicht zu kompromittieren oder um die Aktivierung von Freiwilligen zu fördern.
Zusammenfassend glaube ich, dass die von diesem Buch aufgezeigten Religionstrends für die Schweiz in den Kirchen zu denken geben sollten und auch für die Ergreifung von Massnahmen nützlich sein könnten. Doch es ist wichtig, Theologiekrise und Kirchenkrise auseinander zu halten und nicht zu vermischen, auch wenn beides miteinander zu tun hat und ineinander verschränkt ist. Am Ende bleiben wir auf Gottes Hilfe, Geist und Willen angewiesen.
Ivan Walther-Tschudi, Pfarrer in Urdorf, Mitglied der Zürcher Kirchensynode
Wolfgang von Ungern-Sternberg
Unsere Herausforderung besteht darin, dass wir zwei gegensätzliche Dinge gleichzeitig tun müssen. Und das ist für viele zu viel. Auf der einen Seite benötigen wir Klarheit der Inhalte, d.h. dass wir wirklich bei den Worten Jesu bleiben. Wir müssen ganz eindeutig und ohne jedes einknickende Entschuldigen bei den biblischen Leitlinien bleiben, bei welchem Thema auch immer, und daran festhalten. Das heisst, wir müssen etwas Uraltes festhalten, also im besten Sinne «konservativ» sein.
Auf der anderen Seite brauchen wir Mut für neue Formen. Eine Kirchenorgel war damals einfach der Versuch, das wirkmächtigste Instrument, das es gab, in den Dienst der Kirche zu stellen. Manchen war das offenbar damals schon zu viel. Was ist die wirkmächtigste Musik, die wir heute haben? Die Tempelgottesdienste im alten Israel waren ein Spektakel im umfassenden Sinn. Viele rümpfen heute die Nase über Gottesdienste, die wie ein Konzert mit Predigt aussehen, Discolichter und Bandklänge. Kein Mensch behauptet, dass man nur so solle - aber man muss auch so. Luther war bekannt dafür, den Leuten «auf’s Maul geschaut» zu haben; weltliche Trinklieder wurden zu geistlichen Hymnen umgedichtet. Wer dichtet Shakira auf christlich um? Ich hätte nichts dagegen.
Die meisten Leute bleiben entweder bei Maxime eins: Altes festhalten. Und tun das dann auch bei der Form. Oder bei Maxime zwei: Neues wagen. Und beziehen das dann auch auf den Inhalt. Der Trick ist, gegensätzliche Dinge gleichzeitig zu tun.
Wolfgang von Ungern-Sternberg, Pfarrer in Umiken AG