«Wie werden wir sein als Kirche in 30 oder 40 Jahren?»
Die Herbstsynode der Schweizer Reformierten am 7. und 8. November in Bern stand im Zeichen des personellen Wechsels. Drei Ratsmitglieder wurden verabschiedet und die GPK fast gänzlich erneuert, das Synodebüro erhielt zwei neue Vizepräsidenten. Die Synodalen blickten zurück auf die Vollversammlung des ÖRK in Karlsruhe, hörten Gäste und diskutierten die Finanzperspektiven angesichts des Mitgliederschwunds.
Warum Kirche? Braucht der Mensch sie für seine Spiritualität? Mit einer grossen Frage, die öffentlich verhandelt wird, begann die Ratspräsidentin Rita Famos ihre Ansprache. Sie konstatierte, die technische Entwicklung habe Religion nicht überflüssig gemacht; heute seien viele Menschen technologiekritisch.
Doch die Kirchenaustritte machten Sorge. «Wie werden wir sein als Kirche in 30 oder 40 Jahren?» Es hilft den Reformierten laut Rita Famos aber nicht, wenn sie sich den eigenen Relevanzverlust ständig vorhalten und «die kirchliche Bedeutungslosigkeit herbeireden». Sie sollten sich auch nicht als bedrohte Minderheit sehen.
Die Herausforderung kleidete Famos in die Frage: «Wo sind wir Botschafterinnen und Botschafter unserer engagierten, offenen, farbigen Kirche? Wir müssen der Welt nicht erklären, warum es Kirche braucht, sondern bezeugen, wo und wie sie unseren Glauben nährt, uns in ihre Gemeinschaft hineinnimmt, wir mit ihr streiten, weil sie uns wichtig ist.»
«Den Winter in innere Wärme verwandeln»
Die Ratspräsidentin stellte den kommenden «kälteren und dunkleren Winter» vor Augen. Die Reformierten sollten ihm trotzen, mit ihren Feiern «leuchtende Tankstationen» anbieten, an der Seite der Menschen sein, sie ermutigen und niemand allein lassen, ihren Beitrag leisten zu einer solidarischen Gesellschaft. «Wir müssen leben, was Christus uns aufgetragen hat.»
Rita Famos erwähnte das Engagement für Geflüchtete und zitierte Matthäus 11,28 und 25,35. «Mit Gottes Hilfe wird es uns gelingen, Verzicht in Freiheit, Knappheit in Gemeinschaft, Angst in ein Gebet und schlussendlich den Winter in innere Wärme zu verwandeln. Und niemand mehr wird fragen: Warum Kirche?»
Drei Kämpferinnen
Zu Gast in der Synode war Najla Kassab, die Präsidentin der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen. Die aus dem Libanon stammende Pfarrerin skizzierte den reformierten Beitrag zum Dienst der Christen an den Menschen, ohne theologisch tiefer zu schürfen. Es gehe darum, «unsere Kraft in unserem Zusammensein zu erneuern» und ein besseres Morgen vorzustellen.
Die gebürtige Sizilianerin Alessandra Trotta, ursprünglich Anwältin, leitet seit 2019 die Waldenserkirche. Sie forderte in ihrem Grusswort die Liebe zu Fremden. Eine starke Antwort auf die globale Migration sei wesentlich fürs christliche Zeugnis. Spiritualität dürfe nicht gegen soziale Aktion ausgespielt werden.
Eine afrikanische Theologin wurde mit dem internationalen Sylvia-Michel-Preis ausgezeichnet: Rebecca Mutumosi Mfutila, die erste ordinierte Pfarrerin der Communauté Evangélique du Kwango (DR Kongo) und Vorkämpferin der Frauenarbeit im Land. Najla Kassab nannte die Preisverleihung eine Chance, junge Frauen zum kirchlichen Engagement zu ermutigen. (Mehr)
Schutz der persönlichen Integrität
Der Rat EKS legte eine Vorlage zum Schutz der persönlichen Integrität vor. Sie solle umfassend geschützt werden: Zu wehren sei nicht nur sexueller Belästigung, sondern auch Mobbing und Diskriminierung, sagte Ruth Pfister namens des Rats. Die EKS hatte sechs Bausteine für ein Schutzkonzept erarbeitet. Der Rat empfahl den Mitgliedkirchen, sich ihrer zu bedienen. Die gemeldeten Fälle sollten von der EKS statistisch erfasst werden.
Doch der Vorlage brandeten Vorbehalte entgegen. Sie sei «noch nicht das Gelbe vom Ei», sagte Annelies Hegnauer namens der GPK. Sie wandte sich gegen die Absicht, Fälle zentral zu erfassen – auch aus Datenschutzgründen. Gabriela Allemann, Sprecherin der Frauenkonferenz, beantragte Rückweisung der ganzen Vorlage. «Uns fehlt der grosse Bogen, der die verschiedenen Anspruchsgruppen und Risikosituationen umspannt.» Sie wünschte, dass auch der geistliche Missbrauch genannt werde. Die Berner Vertreterin Bettina Jans-Troxler schloss sich ihnen an. Fragen gebe es vor allem zur Umsetzung. «Unsere Kirchen sollen sichere Orte sein, und dafür braucht es einen grossen Effort.»
Ruth Pfister suchte die Kritik zu kontern. Die EKS wolle nicht etwas «fixfertig vorgeben»; sie gebe den Kantonalkirchen Empfehlungen, damit diese ein eigenes Konzept erstellten. Doch die Synodalen wiesen die Vorlage mit 46 zu 18 Stimmen bei sechs Enthaltungen zur Überarbeitung zurück.
Assoziierung geregelt
Wie offen sind die Reformierten für Stimmen in ihrem evangelischen Umfeld? Die Synode genehmigte mit kleinen Änderungen das Reglement zur «Assoziierung von Kirchen und Gemeinschaften». Die Möglichkeit dazu wurde in der neuen Verfassung (Text unten) geschaffen – für «in der Schweiz ansässige evangelische Kirchen und Gemeinschaften, die sich innerhalb der evangelischen Tradition sehen und «mindestens regional verbreitet» sowie demokratisch verfasst sind, sowie evangelische Schweizer Kirchen und Gemeinschaften im Ausland. Assoziierte sollen im «regelmässigen Austausch» mit dem Rat EKS stehen; ihr Vertreter hat in der Synode beratende Stimme. Das Reglement, welches das komplizierte Aufnahmeverfahren regelt, fand Zustimmung.
Rückblick auf die ÖRK-Vollversammlung
Mit Videos und Berichten wurden Facetten der elften Vollversammlung des ÖRK in Karlsruhe im Sommer vermittelt. Rita Famos erläuterte, wie die im Juni beschlossene Motion, die den ÖRK-Zentralausschuss aufforderte, die Suspendierung des Moskauer Patriarchats zu prüfen, vom EKS-Vertreter eingebracht wurde. Ihr wurde keine Folge gegeben. Immerhin seien Ukrainer eingeladen worden; sie hätten sich in Karlsruhe pointiert und fordernd zu Wort gemeldet.
Enttäuschend ausgefallen sei nicht nur dieSchlusserklärung von Karlsruhe, sondern auch der Besuch des Generalsekretärs in Moskau, sagte Famos. Der ÖRK sei durch die von Patriarch Kyrill gerechtfertige Invasion in einer Zerreissprobe geraten. In der Diskussion erklärte sich der Motionär Michel Müller unzufrieden über den Verlauf der Dinge.
Evelyn Borer bleibt Synodepräsidentin
Die Synode hatte mit Wahlen begonnen. Die Synodepräsidentin Evelyn Borer stellte sich für eine zweite Amtszeit zur Verfügung und wurde mit allen gültigen Stimmen gewählt. Sie bekam starken Applaus. Als ihre Vize wurden neu der zweisprachige Florian Schubert und Gilles Cavin, Pfarrer in Neuchâtel und Sierre, mit 71 bzw. 67 Stimmen bestimmt.
Die fünfköpfige Geschäftsprüfungskommission, die bei den Turbulenzen 2020 intern in die Kritik geraten war, war auf vier Posten neu zu bestellen. Die Bisherige Annelies Hegnauer übernimmt vorübergehend für sechs Monate die Leitung. Neu gewählt wurden Aude Collaud (VD), Christoph Zingg (GR), Andreas Fuog (GE) und Gabriele Higel (Kirchenratsschreiberin SH). Für die Nominationskommission kandidierten Judith Pörksen-Roder (BEJUSO, Präsidium), Jean-Luc Blondel (VD) und Gerhard Bütschi (AG). Sie wurden still gewählt.
Verabschiedungen
Am zweiten Tag der Synode wurden drei Ratsmitglieder verabschiedet. Die Vaudoise Esther Gaillard schilderte emotional, wie sie sich für die Reformierten eingesetzt hatte. Der Glarner Ulrich Knöpfel blickte selbstkritisch zurück auf die Jahre mit Gottfried Locher und schloss kämpferisch: Der Kirche sei auf allen Stufen mehr Ehrlichkeit, Mut und Konfliktfähigkeit zu wünschen. Daniel Reuter, im Juni abgewählt, verzichtete auf eine Würdigung und schenkte seinen Blumenstrauss der EKS-Geschäftsstellenleiterin Hella Hoppe und ihrem Team.
Das Budget für 2023, das Mitgliederbeiträgen von knapp 6 Millionen Franken erwartet, genehmigten die Synodalen ohne Gegenstimme. Der Finanzplan für 2024 bis 2027, der von gleichbleibenden Beiträgen ausgeht, wurde vom Aargauer Gerhard Bütschi kritisch kommentiert: Die Finanzplanung müsse Hand in Hand gehen mit der Entwicklung der Mitgliederzahlen sowie mit Aufgabenverschiebungen und -verzichten und den Legislaturzielen des Rates.
Eine Motion der Zürcher Synodalen Esther Straub wurde vom Synodebüro entgegengenommen. Künftig hat die Ombudsstelle die GPK jährlich über ihre Tätigkeit zu informieren.
Website zur Synode mit den Unterlagen
Bilder: EKS/Nadja Rauscher - Rathaussaal: LKF - Karlsruhe: WCC/Albin Hillert
Verfassung der EKS
§ 36 Assoziierte Kirchen und Gemeinschaften
1 Die Assoziierung bietet Kirchen und Gemeinschaften, die nicht Mitglied der EKS sind, die Möglichkeit der institutionalisierten Form
der Begegnung und des strukturierten Austauschs mit der EKS. Assoziierte Kirchen und Gemeinschaften sind nicht Mitglieder im Sinne
von IV. (Mitgliedschaft).
2 Assoziiert werden können
a. in der Schweiz ansässige evangelische Kirchen und Gemeinschaften, die
1. sich als Kirche oder Gemeinschaft innerhalb der evangelischen Tradition verstehen,
2. mindestens regional verbreitet sind,
3. demokratisch verfasst sind,
4. nicht einer Mitgliedkirche der EKS angegliedert sind oder zu einem Synodalverband gehören, der Mitglied der EKS ist;
b. evangelische Schweizer Kirchen und Gemeinschaften im Ausland.
3 Die Assoziierung bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden Synodalen.
4 Assoziierte Kirchen und Gemeinschaften entsenden eine Vertreterin oder einen Vertreter in die Synode. Sie haben in der Synode beratende
Stimme.
5 Der Rat führt einen strukturierten Austausch mit den assoziierten Kirchen und Gemeinschaften.
6 Die EKS oder die assoziierten Kirchen und Gemeinschaften können die Assoziierung unter Einhaltung einer dreimonatigen Frist auf das Ende eines Jahres beenden. Der Beschluss zur Beendigung einer Assoziierung durch die EKS bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder der Synode.