«Austausch auf Augenhöhe, so dass Vertrauen entsteht»
«Hätte die Kirche nur noch halb so viele Mitglieder, wäre das nicht tragisch, wenn diese umso bewusstere Christus-Nachfolger wären.» Dies sagt Pfr. Wilfried Bührer, der die Thurgauer Landeskirche
19 Jahre geleitet hat. Die mittelgrosse Kirche hebt sich in manchen Aspekten positiv ab. Bührer kommt auf Laienprediger zu sprechen, auf Integrationsfiguren – und auf die Chance des Bekennens.
LKF: Wie haben Sie als Kirchenratspräsident darauf hingewirkt, dass die Landeskirche den Kirchgemeinden dient?
Wilfried Bührer: Die Thurgauer Kirche hatte, wenn man die Stellenprozente betrachtet, gemessen an der Mitgliederzahl wohl die schlankste Leitung. Wir gingen davon aus, dass die Gemeinden funktionieren. Doch die Herausforderungen stiegen auf verschiedenen Ebenen: Gemeindekonflikte forderten uns. Wir wurden zunehmend Dienstleisterin. Unser Kirchenratsaktuar Ernst Ritzi gab viel Auskunft und vermittelte.
Daneben haben wir inhaltliche Akzente gesetzt. Wir gaben das Buch «Den Weg zu Ende gehen» heraus und erstellten ein Zusatzgesangbuch, das nun fast in allen Kirchgemeinden des Kantons genutzt wird.
Und Sie haben Vertrauen aufgebaut.
Man kann die Kirche unter unseren Bedingungen nur leiten, indem man mit den Leuten einen Austausch auf Augenhöhe pflegt, so dass Vertrauen entsteht. Zum Glück konnte ich das Präsidium so lange innehaben.
Ich bin nicht der «Kam, sah und siegte»-Typ. Es muss nicht so gehen, wie wir im Kirchenrat es uns vorstellen. Aber wenn im Laufe der Zeit Vertrauen wächst, so dass man uns schon anfragt, wenn Konflikte sich abzeichnen, dann ist das besser als ein neues Gesetz, das die Autonomie der Gemeinden einschränken würde. Wir regieren nicht von oben herab, können wir auch nicht. Die Steuern fliessen in den Kirchgemeinden.
Kann die Landeskirche Kirchgemeinden aus Einseitigkeiten befreien?
Ich bin nicht sicher, ob wir das geschafft haben. Ein Vorstoss in der Synode zielt auf die freie Wahl der Kirchgemeinde. Diese würde wohl dazu beitragen, dass sich Gemeinden verschiedener profilieren. Zweifellos bestehen bereits Unterschiede.
Ich sehe allerdings, dass das Pfarramt einen auch erzieht. Die Amtsinhaber stehen, unabhängig von ihrer theologischen Ausrichtung, früher oder später vor den gleichen Herausforderungen. In einem Interview wurde ich gefragt, ob die Thurgauer Kirche gespalten sei. Nein. Gewisse Selbstverständlichkeiten haben wir schon noch, nicht nur in den Dorfgemeinden.
Zu unseren Schwerpunkten seit langem gehört die Laienförderung. Wir machten Angebote fürs Leiten von Hauskreisen, als diese noch weitherum verpönt waren. Wir führten früh den Laiensonntag ein und gaben Laienpredigern Raum. Die Aargauer und die St. Galler Landeskirche tun dies auch.
Diese Nicht-Theologen predigen nicht bloss an einem bestimmten Sonntag im Jahr.
Die Ausbildung von Laien zum Predigen führte bei uns Paul Rutishauser nach 1990 ein – aufgrund von Erfahrungen in Ghana!
Die Vorgabe, dass in jeder Gemeinde an jedem Sonntag Gottesdienst gehalten wird, könnten wir ohne Laienprediger nicht mehr erfüllen. Derzeit sind rund 40 ausgebildet und beauftragt und können angefragt werden.
Mit dem Pfarrermangel wird sich die Frage stellen, ob man das Gottesdienstangebot ausdünnt oder mehr Laien einsetzt. Und ich denke, dass Teams einzelne Gottesdienste gestalten können. Vielleicht kommen wir weg von der Vorgabe, dass ein akademisch ausgebildeter Theologe ihn halten muss.
Muss sich Grundlegendes, Grosses ändern, damit Kirchgemeinden für die Zukunft fit werden?
Wir können das hier am Tisch besprechen und Forderungen formulieren. Wir dürfen um den Heiligen Geist bitten – nicht nur an Pfingsten. Doch um den Aufbau vor Ort kommen wir nicht herum. Ich sehe Gemeinden mit guter Konfirmanden- und Jugendarbeit. Wir haben die Gemeinden zu Glaubenskursen ermuntert. Für Innovation haben wir eine Teilzeitstelle geschaffen.
Ja, wir könnten eine Vision formulieren. Aber das treue, beharrliche, beziehungsorientierte Arbeiten vor Ort ersetzt es nicht. Der Wandel hängt auch an Integrationsfiguren, die Gutes bewahren und zugleich Neues ermöglichen und fördern. In Weinfelden beispielsweise war der klassische Organist auch bereit, Jugendbands zu begleiten. Dies hat geholfen, dass man nicht über den altmodischen Chor bzw. die lärmige Band «gwäffelet» hat.
Hat es mit dem Zusammenwirken der Schlüsselpersonen am Ort zu tun, dass der Funke einer positiven Dynamik selten von einer Gemeinde zu anderen überspringt?
Wohl schon. Auch die Geschichte einer Gemeinde prägt. Wir erfinden sie nicht neu. Doch ich erlebe auch, dass an Orten, wo man es nie erwartet hätte, etwas aufblüht.
Einige Kirchgemeinden im Kanton haben starke Freikirchen neben sich. Da sehe ich Beides: einerseits dass man sich gegenseitig abgrenzt – fast stärker als früher Reformierte von den Katholiken! – und andererseits, dass man sich gegenseitig beflügelt. Es würde sich lohnen, den Ursachen nachzugehen. Schlüsselpersonen spielen bestimmt eine Rolle.
Wie findet die Kirche Verantwortliche?
Es war uns schon immer wichtig, Verantwortliche zu ermuntern und zu ermutigen. Ich meine, wir hatten immer gute Zusammenkünfte mit allen Pfarrer(inne)n und Diakon(inn)en, mit Präsidenten und Kassierern. Wir vermittelten, dass man auf die Kirche auch noch ein bisschen stolz sein darf. Man darf ihr mit Freude vorstehen.
Welche Bedeutung für das Miteinander hat das Thurgauer Bekenntnis von 1874?
Es ist heute der Kirchenordnung vorangestellt. Wir haben uns vor Jahren in mehreren Veranstaltungen mit ihm befasst. In einer harten Polarisierung entstand es im 19. Jahrhundert als gutgemeinter Vermittlungsversuch. Mit Zufallsmehr entschied die Synode damals, es solle als einziges gelten und auf das apostolische Glaubensbekenntnis sei zu verzichten. Daraufhin setzten sich Fromme ab. Heute wirkt es in säkularem Umfeld mit seiner trinitarischen Struktur durchaus bekennend.
Der Wittenberger Pfarrer Alexander Garth, Referent an der nächsten LKF-Tagung, schreibt in seinem neuen Buch, dass die Kirche Schaden nimmt, wenn Christus nicht als Gottes Sohn bekannt wird.
Ich sehe das so und sage bei jeder Gelegenheit, dass es der Kirche darum gehen muss, sich auf Jesus Christus zu beziehen. Wir haben die christlichen Feste als Anknüpfungspunkte; sie machen nur Sinn, wenn Jesus mehr als ein Wanderprediger und Heiler ist. Dies gilt es ständig neu zu erklären. Wer ist Jesus der Christus für mich?
Reformierte drücken sich zu oft kompliziert und distanziert aus – ich ertappe mich auch dabei. Mühe habe ich, wenn man aus irgendwelchen Rücksichten nur noch «Gott» sagt und nur schon ein Adjektiv wie «Treuer Gott» vermeidet, weil es als zu männlich gilt. Oder wenn man wegen des Dialogs mit Muslimen Jesus nicht mehr als Sohn Gottes bekennt.
Wie kann das Bekennen gefördert werden?
Das Schrumpfen unserer Kirchen ist nicht automatisch ein Gesundschrumpfen. Werden wir eine Bekenntniskirche sein – oder nur noch eine Funktionärskirche, die besteht, solange sie Geld hat? Das darf nicht sein.
Die Kirche ist seit dem 1. Jahrhundert die Gemeinschaft derer, die auf Jesus Christus ausgerichtet sind. Dies ist immer wieder in Erinnerung zu rufen. Hätte die Kirche nur noch halb so viele Mitglieder, wäre das nicht tragisch, wenn diese umso bewusstere Christus-Nachfolger wären.
Aber das passiert nicht automatisch. Wir müssen darauf hinarbeiten. Sicher gehört dazu, wie Lukas Kundert kürzlich im LKF-Podcast gesagt hat, die Frommen nicht weiter an den Rand zu drängen.
«Die Herren dieser Welt gehen. Unser Herr kommt», sagte Gustav Heinemann. Ist in den aktuellen Erschütterungen die Eschatologie zu predigen?
Es geht uns immer noch sehr gut. Wir sind wohlbehütet. Doch Ängste nehmen zu. Jugendliche leiden, viele wegen der Scheidung ihrer Eltern. Ich hatte nun nochmals eine Konfirmandenklasse und finde: Bekenntnisorientierte Jugendarbeit lohnt sich, hat vielleicht mehr Chancen als vor Jahrzehnten.
Die Kirche sollte junge Erwachsene begleiten und besonders jene unterstützen, die eine Familie gründen wollen. Das Evangelium gibt Hoffnung. 1971 war das letzte Jahr, in dem in reformierten Kirchen der Schweiz mehr Taufen als Abdankungen stattfanden. Die tiefe Geburtenrate der Reformierten ist ein Armutszeugnis.
Was ist davon zu halten, dass mehr Menschen gar keine spirituellen Bedürfnisse äussern?
Solange der Staat als Sozialstaat funktioniert und sich als Vater und Mutter gibt, mag es sein, dass viele sich so verstehen bis ins Alter.
Wie wäre es ohne die Leistungen des Sozialstaats, die uns tragen? Wobei ich recht verstanden sein möchte: Ich bin nicht gegen den Sozialstaat!
Es ist noch zu früh, zu behaupten, dass eine Gesellschaft mit sehr vielen religionslosen Menschen die Werte nicht verliert, die den Gemeinsinn bilden, das Gemeinwesen tragen. Die Erfahrung einiger Jahre oder Jahrzehnte genügt nicht. Wie es wirklich ist, wird man erst aus grösserer Distanz sehen.