«Die Welt ist mehr als das, was der Fall ist»

Im Festakt zum 75-Jahr-Jubiläum der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig am 2. September 2021 hielt Ingolf U. Dalferth einen Vortrag zur Bedeutung theologischer Verlage in der säkularen Gesellschaft. Eine Kritik der Digitalisierung, von aktuellen Debatten und Ansätzen wie Transhumanismus verband er mit einer Skizze dessen, was Theologie zu leisten hätte. Auszüge (Auszeichnungen Red.):


«Nicht Inhalt und Argument, sondern Präsentation und Gefühl prägen die öffentlichen Debatten. Menschen werden nicht primär durch kluge Abhandlungen und überzeugende Argumente, sondern durch körperliche Emotionen, seelische Affekte und subjektive Gefühle in Bewegung gesetzt. (...)

In der Epoche des Buchdrucks seit dem 16. Jahrhundert bildete sich eine Kultur heraus, die ihre Stärken in der Konstruktion und Konstitution von Individualität, Selbsttätigkeit, Eigenverantwortlichkeit und freien Interaktion von Individuen hatte. Das Paradigma des Menschen war der Autor. Wie Autoren den Sinnzusammenhang ihrer Werke schaffen, so sollte jeder der Autor seines Lebens sein, diesem also durch seine Kommunikationsentscheidungen Sinn geben. Der zentrale Wert ist Autonomie, und je autonomer man ist, desto besser.

In einer mündlichen Kommunikationskultur ist das anders. Dort entscheidet nicht der Sprecher über den Sinn seiner Äusserungen, sondern die Hörer: Nicht was gesagt wird, sondern wie es verstanden wird, ist entscheidend. Fällt das auseinander, dann liegt nicht etwa ein Missverständnis vor, sondern ein kommunikatives Versagen des Sprechers. Paradigma des Menschen ist jetzt der Aufmerksame und die Einfühlsame, die sich von vornherein daran orientieren, wie man sie vermutlich verstehen dürfte. Der zentrale Wert ist Empathie, und je empathischer einer ist oder sich gibt, desto authentischer kommt er bei seinen Hörern an.

Ob das kulturell ein Fortschritt ist, darüber kann man streiten. Bekanntlich ist keiner empathischer als der Teufel: Er versetzt sich in jeden hinein, und er kann zuhören wie kein anderer. Für sich genommen ist Empathie weder gut noch schlecht. Es kommt darauf an, was man daraus macht. Man kann Autonomie und Empathie auch nicht einfach gegeneinander ausspielen. Es gibt bei beiden positive und problematische Züge.

Autonomie wird überzogen, wo man andere aus lauter Selbstseinwollen nicht mehr ernst nimmt. Empathie dagegen wird überzogen, wo sie zur Attitude wird und man denen, die um Anerkennung kämpfen, suggeriert, sie würden ernst genommen, wenn man sie sprachlich sichtbar macht. Das sind Scheingefechte, aber darauf beschränken sich viele Debatten heute. Wir führen Kulturkämpfe um Äusserlichkeiten, weil wir oft mehr auf die sprachlichen Formen der Kommunikation achten als auf sachliche Gehalte.

Daran sollten sich Kirche, Theologie und theologische Verlage nicht beteiligen. Ihre Aufgabe ist, die Urteilskraft und Urteilsfähigkeit zu stärken, die man braucht, um zwischen Schein und Sein, Oberflächlichem und Wichtigem unterscheiden zu können. Wer nicht zu unterscheiden versteht, kann gegen Diskriminierung nicht angehen. Er folgt dem Trend, und der führt selten weiter als bis zum Austausch einer Diskriminierung durch eine andere.

Verfolgt man die gegenwärtigen Auseinandersetzungen in Kirche und Gesellschaft, dann fällt auf, wie wenig sich diese unterscheiden. Es geht um dieselben Themen, man streitet auf dieselbe Weise und es bilden sich dieselben Fronten. Wie in der Zivilgesellschaft, so in der Kirche, und wie in den Kulturwissenschaften, so in der Theologie. Jede neue Wendung und Entwicklung wird aufgenommen, nachgemacht und mitvollzogen. Genügt das? Haben Kirche und Theologie nichts anderes, nichts Eigenes mehr zu sagen? (...)

Theologie gehört zum Gesamt des Wissens, nicht weil sie religiös wiederholt, was anderswo gedacht wird, sondern weil sie Gott ins Zentrum stellt und mit dem Bezug auf Gott etwas beizutragen hat, das auch anderswo nicht vergessen werden sollte. Das Christentum hat eine Botschaft, die noch nicht erfasst ist, wenn man sie in die wohlmeinenden Ideale unserer liberal­demokratischen Gesellschaft giesst: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Anerkennung lassen sich sehr verschieden verstehen und leicht missbrauchen. Daraus ent­stehen immer wieder Konflikte.

Man darf diese Ideale daher nicht absolut setzen, sondern muss sie kritisch gebrauchen. Im Christentum geschieht das dadurch, dass sie an Gott gebunden und auf Gott bezogen werden. Ohne Gott gibt es nichts Mögliches und nichts Wirkliches, keine Schöpfung und keine Geschöpfe, keine Freiheit, keine Gerechtigkeit und keine Solidarität unter den Menschen. Denn Gott ist der, dessen Zuwendung sich alles übrige verdankt.» 
 

Es gibt viele Lektionen, die uns die Corona­-Pandemie gelehrt hat. Eine davon ist, dass viele zu Recht fordern, der Gottesfrage wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Aber was heisst Aufmerksamkeit hier? Mit Gott lässt sich nicht kalkulieren. Auf Gott kann man hoffen und vertrauen, aber man kann ihn nicht zum Faktor in Risikokalkulationen machen.

Man erklärt auch nichts, wenn man auf Gott verweist. Man öffnet vielmehr den Blick für die Möglichkeiten des Guten auch dort, wo man selbst nichts mehr tun kann – Möglichkeiten, die sich unserem Wahrscheinlichkeitskalkül entziehen, weil man sie nicht kontrollieren, sondern sich von ihnen nur überraschen lassen kann. Sie ereignen sich unvorhersehbar und widerfahren uns ohne unser Zutun, wo wider alles Erwartbare Gutes aus Üblem, Leben aus Tod, Sein aus Nichts entsteht. Das meinen Christen, wenn sie von Gottes schöpferischer Gegenwart reden.

Diese schöpferische Präsenz Gottes in unserer Kultur und Gesellschaft kritisch in Erinnerung zu halten, ist Aufgabe von Theologie und Kirche, aber auch der theologischen Verlage. (…) Natürlich können sich auch theologische Verlage nicht den geistigen Grosstrends entziehen, die unsere Kultur seit 500 Jahren prägen. Immer wieder kommt es dabei zu markanten Verschiebungen in dem, was man für wichtig oder unwichtig, relevant oder irrelevant hält. Das prägt auch die theologische Produktion.

In der Reformation stand Gott und nicht mehr primär die Kirche und ihre Sakramente im Zentrum; in der Aufklärungsmoderne nicht mehr Gott, sondern primär Vernunft, Erfahrung und Geschichte; in der Spätmoderne nicht mehr Vernunft, sondern Körperlichkeit, Gefühl und Emotionen, damit die mit anderen Tieren geteilte Empfindungs­ und Leidensfähigkeit und die Einbettung der Menschen in umfassende ökologische Zusammenhänge.

In jüngster Zeit faszinieren die Verheissungen einer Zukunftstechnologie, die eine säkulare Epochenzäsur verspricht: Nicht der Mensch und seine organische Mit­ und Umwelt, sondern ein transhumanes Mensch-­Maschinen­-Konstrukt wird die Zukunft bestimmen. All diese Entwicklungen lösen sich nicht ab, sondern bestehen mehr oder weniger ausgeprägt nebeneinander weiter: Wir leben in einer vielschichtigen kulturellen Welt und müssen uns zwischen oft Widersprechendem entscheiden.

Auffällig ist allerdings, dass in all diesen kulturellen Zuspitzungen der Mensch der Bezugspunkt ist: er wird dem Übermenschlichen (also Gott) kontrastiert oder dem Nichtmenschlichen (Tieren) oder dem Mitmenschlichen (anderen Menschen) oder dem Transhumanen (denkenden Maschinen).

Auch theologische Publikationen sind dementsprechend anthropologisch ausgerichtet, oder ethisch, oder ökologisch und tierethisch, oder kommunikationstechnologisch und digital. Keine dieser Richtungen ist per se theologisch besser als eine andere. Sie alle sind vielmehr durch eine grundlegende Spannung gekennzeichnet.

Sie thematisieren das Übermenschliche, Nichtmenschliche, Mitmenschliche und Transmenschliche vom Menschen her, Theologie aber kann nicht umhin, den Menschen von Gott her zu thematisieren. Der Mensch ist der, an dem Gott baut, wie Luther sagte. Nicht der homo mensura­ Satz ist der Leitgedanke der Theologie, aber auch nicht die Gegenthese, Menschen seien auch nur Tiere unter Tieren, sondern der deus mensura ­Satz: Menschen gehen immer von sich aus, wenn sie etwas denken, eine vernünftige Theologie aber geht von Gott aus, wenn sie den Menschen denkt.

Das macht theologisches Denken in jeder Epoche zu einem kulturellen Gegenentwurf, der die Themen ihrer Zeit nicht nur religiös verbrämt wiederholt, sondern alles in einem anderen Gesamtrahmen durchdenkt. Die Theologie kennt alle Varianten und Abgründe der Gottesfrage, aber sie zieht sich nicht ins Vage und blosse Vielleicht zurück, sondern thematisiert alles im Licht dessen, dass Gott überall am Werk ist.

Das unterscheidet sie von den Ideologien ihrer Zeit, die mit Gott nichts anzufangen wissen, aber es bewahrt sie auch davor, in den Jubelchor derer einzustimmen, die den Menschen technologisch neu schaffen wollen. Eine transhumane Zukunft, in der nicht nur Bücher ohne Menschen geschrieben und gelesen werden, sondern Menschen zu Maschinenmenschen mutieren, die alles Animalische, Zerbrechliche und Endliche hinter sich gelassen haben, ist kein zukunftsweisendes Ideal. Es blendet Gott aus, und wenn Gott an den Menschen baut, dann werden diese immer mehr sein als ihr eigenes Produkt.
 

Deshalb stehen theologische Verlage dafür, dass auch in einer säkularen Welt nicht nur Texte publiziert werden, die ihre Themen behandeln etsi deus non daretur (als ob es Gott nicht gäbe; Red.), sondern die den Möglichkeitsraum ausloten, der sich eröffnet, wenn man alles betrachtet etsi deus daretur (als ob es Gott gäbe).

Das erste ist die detranszendentalisierte Sicht der Welt (Habermas), die unsere Wohlstandskultur prägt. Sie kennt keinen Gott mehr, aber sie lässt auch alles beim Alten. Alles Neue wird in ihr durch uns erzeugt. Aber was immer wir erzeugen, führt uns in die alten Probleme des Gegeneinanders der Menschen. Was zählt, ist nicht, was wir teilen, sondern wodurch wir uns den anderen gegenüber auszeichnen. Wir reden von Frieden. Aber wir suchen den Streit.

Das zweite rechnet überall mit Überraschungen, die diese transzendenzabstinente Sicht stören, weil der Bezug auf Gott dazu nötigt, zwischen Schöpfung und Schöpfer, Welterklärung und Lebensorientierung, Erforschung der Welt und Ausrichtung auf Gott zu unterscheiden. Die Welt ist mehr als das, was der Fall ist. Sie ist auch nicht nur das, was wir aus ihr machen. Sie ist Schöpfung und damit der Wirkraum von Gottes Gegenwart.

Nicht so, dass Gott dort als Akteur unter Akteuren aufträte, also in Konkurrenz zum Tun von Politikern, Wissenschaftlern oder Medizinern stünde. Gott wirkt nicht, wie sie wirken, sondern macht ihr Wirken möglich. Der Rekurs auf Gott erklärt auch nichts, aber ohne Gott gäbe es nichts, was sich erklären liesse.

Das ist der prinzipielle kritische Vorbehalt des Christentums gegenüber jedem religiösen und säkularen Dogmatismus. Wo das Christentum lebt, stehen nicht die Christen im Zentrum, sondern Gott. Es ist ein säkularer Irrtum zu meinen, die religiösen Konflikte unter den Menschen liessen sich überwinden, indem man von Gott schweigt. Auch in einer säkularen Kultur stehen die Menschen sich weiterhin in Bekenntnisgruppen gegenüber, nur sind es jetzt moralische und politische Überzeugungen, um deren Fähnlein man sich versammelt.

Wo dagegen Gott im Zentrum steht, stehen Christen den Nichtchristen nicht gegenüber, sondern zusammen mit allen anderen am gleichen Ort vor Gott. Christen ziehen daher nicht in einen Kulturkampf, wenn sie an Gottes Zuwendung und Gegenwart erinnern. Sie sind Realisten – auf Hoffnung. Ihr Kampf gilt nicht einer europäischen Kulturtradition, sondern der Sensibilisierung für Gottes Gegenwart im Leben eines jeden Menschen.

Video des EVA-Festakts mit dem Vortrag von Ingolf U. Dalferth