Die Relevanz des Bekenntnisses

Eine Kirche ist pluralismusfähig und relevant für die Gesellschaft, wenn sie sagen kann, wofür sie steht. Kirchliche Bekenntnisse dienen der Identitätsvergewisserung, indem sie an das Evangelium von Jesus Christus als dem Lebensgrund der Kirche binden. Sie ermöglichen eine wahrhaftige Anbetung Gottes, der uns in Christus entgegenkommt. Ein Aufsatz von Hans-Martin Rieger.


Das Bemühen der Landeskirchen ist davon geprägt, Relevanz zu zeigen für die moderne Gesellschaft. Es scheint, als ob dieses Bemühen zunimmt, je mehr die Bedeutung der Kirchen abnimmt. Ein Ausdruck dieses Bemühens ist der Programmsatz, Kirche für die Bedürfnisse der Menschen sein zu wollen. Er geht offenbar davon aus, dass die Bedürfnisse bestimmten, ob und inwiefern die Kirche relevant werden kann. Ein anderer Ausdruck dieses Bemühens bezieht sich direkt auf die postmoderne Pluralität. Der Programmsatz lautet dann: Kirche stehe für die Vielfalt. Er geht offenbar davon aus, dass sich auf «das Christliche» festlegen zu wollen, nicht zeitgemäss sein könne. Er kann sich auch als typisch reformiert ausgeben und sich auf die Freiheit vom lehrmässigen Bekenntnis berufen.

Wann ist Kirche relevant?
Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Jürgen Moltmann und der Sache nach schon Dietrich Bonhoeffer haben auf einen wichtigen Zusammenhang hingewiesen, der zunächst ein Dilemma zwischen Identität und Relevanz darstellt: Je mehr die Kirchen ihre Relevanz für die Gesellschaft im Auge haben, desto mehr passen sie sich an und verlieren ihre Identität – damit aber verlieren sie erst recht Relevanz. Je mehr Kirchen hingegen ihre Identität in Abgrenzung zur Gesellschaft zu wahren versuchen, desto mehr grenzen sie sich ab und verlieren ihre Relevanz – damit aber letztlich auch ihre Identität als Kirche für die Welt. Die Aufgabe bestünde darin: Wem um Relevanz zu tun ist, muss auch um Identität zu tun sein – und zwar ohne in das erwähnte Dilemma zu geraten.

Hans-Martin Rieger im März 2017 in der Ringvorlesung an der Universität Bern.

Die folgenden Ausführungen gehen davon aus: Eine Kirche ist pluralismusfähig und relevant für die Gesellschaft, wenn sie sagen kann, wofür sie steht. Man darf fragen, ob dieser Sachverhalt schon bereits darin zum Ausdruck kommt, dass viele Ortsgemeinden neben der Betonung der Vielfalt sich doch ein Leitbild erarbeiten und dass viele kirchliche Verlautbarungen mit dem Stichwort «Vielfalt» auch das Stichwort vom «Profil» aufbieten. Ich bin überzeugt, dass ein solches Profil oder Leitbild, so gut und empfehlenswert es ist, die Frage nach der Identität des Christlichen noch nicht beantwortet. Denn hier geht es um den Lebensgrund des Glaubens und den Grund der Einheit der Kirche.

In der Vielfalt not-wendig
Genau an dieser Stelle hat die Rede vom Bekenntnis ihren Ort. Sie ist heute zu Unrecht verpönt. Als lehrmäßige Festlegung scheint sie gleich mehrfach unzeitgemäss. Doch damit ist man schon einem Missverständnis erlegen, was ein Bekenntnis eigentlich sein soll. Gerade unter den heutigen Bedingungen einer gesellschaftlichen und innerkirchlichen Vielfalt gilt es, die rechtverstandene Notwendigkeit des Bekenntnisses neu zu entdecken:

Die Relevanz des Bekenntnisses kommt dort in den Blick, wo man erkannt hat, dass es für die Kirche keine Relevanz gibt, ohne sagen zu können, wofür man steht, nämlich den eigenen Lebensgrund im Evangelium von Jesus Christus. In diesem Sinn dient ein Bekenntnis zur Identitätsvergewisserung.

Das bedeutet aber und ist gegen das erwähnte Missverständnis zu sagen: Einheit und Identität der Kirche kann nicht dadurch geschaffen werden, dass man eigene Überzeugungen in den Bekenntnisrang erhebt. Dadurch würde ein Bekenntnis ins Lehrgesetzliche herabsinken. Die lutherische Bekenntnisbildung des späten 16. Jahrhunderts kann von dieser Gefahr nicht freigesprochen werden: Das Bekenntnis zielt dann nicht mehr darauf, dass Menschen zum Lebensgrund im Evangelium finden, es zielt dann auf ein rechtes Bekenntnis oder eine rechte Lehre selbst. Die Aufgabe eines Bekenntnisses, der Identitätssicherung zu dienen, ist aber nur dann richtig verstanden, wenn deutlich unterschieden wird:

Ein Bekenntnis bindet nicht an sich, sondern an das Evangelium von Jesus Christus als dem Lebensgrund der Kirche. Bekenntnisse schaffen nicht selbst Identität und Einheit, sie sind Vergewisserung dessen, was der Grund ihrer Identität und Einheit, ihr Lebensgrund schlechthin ist: Jesus Christus und sein Evangelium.
 

Bekenntnis schafft Raum
Ich will diese Grundeinsicht im Folgenden entfalten. Die primäre Absicht des Bekenntnisses ist nicht Abgrenzung (das ist allenfalls eine sekundäre). Und sein primärer Zweck kann heute nicht darin gesehen werden, den modernen Traditionsabbruch auch in den Kirchen zu stoppen. Die primäre Absicht ist es vielmehr, Raum zu schaffen bzw. offenzuhalten, dass Menschen selbst auf die erfahrene Erlösung mit dem persönlichen Bekenntnis zu Jesus als ihrem Herrn antworten können (Römer 10,9).

Anders gesagt: Es will den Brunnen freihalten, damit Menschen den Zugang zur Quelle des Evangeliums finden. Oder um ein Bild zu gebrauchen: Gleich dem überlangen Zeigefinger von Johannes dem Täufer, wie Matthias Grünewald ihn auf dem Kreuzigungsbild des Isenheimer Altars in Colmar darstellte, zeigt das Bekenntnis nicht auf sich, sondern auf die Erlösung in Jesus Christus.

Persönliche Antwort und kollektives Gedächtnis
1. In der Bibel und in der frühen Kirche kommen Bekenntnisse in mindestens zwei unterschiedlichen Formen vor: als Akt des individuellen Bekennens – als Texte oder Formeln des Bekennens der Gemeinde bzw. Kirche. Beide Formen lassen sich schon im Alten Testament finden: Das Bekenntnis ist einerseits persönliche Antwort auf Gottes Handeln, im Glaubensbekenntnis (Credo) und im Sündenbekenntnis (Confiteor) – es ist andererseits ein ganz Israel vereinendes kollektives Gedächtnis, das von Generation zu Generation weitergegeben wird (5. Mose 6).Im Neuen Testament besteht die zuerst genannte Form im Akt des offenen Stehens zu Jesus als Christus: «Du bist der Christus!» sagt Petrus (Markus 8,29). In Römer 10,9 besteht die Antwort auf das verkündete Evangelium darin, dass Menschen Christus als ihren Herrn (kyrios) bekennen. Das war nicht ungefährlich in einer Zeit, in der sich Kaiser selbst als Kyrios anbeten ließen.

In dieser Urform des Bekenntnisses zeigt sich auch das Moment der Identitätsvergewisserung: Der Jesus Christus, an den die Kirche glaubt, ist der Gekreuzigte, den Gott von den Toten auferweckt hat. Auf sie als weitergegebene kirchliche Kurzformel beruft sich Paulus auch in 1. Korinther 15,3f. Beide Linien bzw. Formen finden sich in also in der Bibel. Beide sind aber auch zu unterscheiden und zuzuordnen.

Leicht zu sehen ist, dass die erste Form des individuellen Bekenntnisses nicht nur für bestimmte Situationen gilt. Als Antwort auf das Handeln Gottes und Anerkenntnis Jesu als Herrn gehört sie zur Lebensbewegung des Glaubens. Insofern gilt: «Wahre Kirche ist immer bekennende Kirche» (H. Schröer).

Die zweite Form eines kirchlichen Bekenntnistextes hingegen entstand häufig in Situationen, in denen die Kirche gezwungen war, sich ihrer Identität zu vergewissern, also sagen zu können, was das Christliche, nämlich ihr eigener Lebensgrund ist.

Es entstanden zunächst Kurzformeln von regelhafter Bedeutung, die bezeugen sollten, von was sich eine Kirche bestimmen lassen will. Äussere und innere Aufgabe eines Bekenntnisses lassen sich dabei nicht trennen: In ihrem Bekenntnis stellt sich eine Kirche öffentlich und verbindlich zu ihrem Lebensgrund im Evangelium von Jesus Christus, zugleich bindet sie sich an ihn und setzt ihre eigene Lehre und Verkündigung der kritischen Bewährung aus. Wer im Bekenntnis eine Form der kirchlichen Selbstsicherung sucht, sollte nicht vergessen, dass es eine Selbstrelativierung der Kirche darstellt. Ein Bekenntnis hat sein Ziel nämlich im Lobpreis Gottes.

Anbetung
2. Dieser Zusammenhang beider Bekenntnisarten ist grundlegend. Er lässt sich durchaus in der altkirchlichen Bekenntnisbildung, im Apostolischen Glaubensbekenntnis (RG Nr. 263), im Nicänum 325 und im Constaninopolitanum 381 beobachten (RG Nr. 264). Diese Bekenntnisse dienen dem Lobpreis, der sogenannten Doxologie, indem sie formulieren, wie Gott wahrhaftig angebetet wird und wie man ihn wahrhaftig vor den Menschen bekennt.

Ohne diesen Bezug zur Lebenspraxis der Kirche, kann man die altkirchlichen Bekenntnisse – konkret: die in ihnen formulierte Lehre von der Dreieinigkeit und der Christologie – kaum verstehen. Kirchliche Bekenntnisse regeln nicht nur, an welches kollektive Gedächtnis sich die Kirche selbst bindet, sie wollen den einzelnen Menschen dazu verhelfen, sich zu Christus als ihrem Herrn zu stellen, ihn zu bekennen und in den Lobpreis Gottes einzustimmen.

Wer meint, Bekenntnisse müssten Ausdruck dessen sein, was Glaubende gemäss ihrem derzeitigen Glaubensstand jeweils für wahr oder nicht für wahr halten, verkürzt sie auf ein subjektives Credo. Ein kollektives Gedächtnis vergewissert Kontinuität und Identität über Generationen, auch wenn manche Zeitgenossen ob der anstössigen Aussagen nur den Kopf schütteln mögen.

Als menschliche Bekenntnisse können sie durchaus verändert und fortgeschrieben werden, aber nur von ihrer Zielbestimmung her: Dient es dazu, dass Menschen sich zu Christus stellen und Gott wahrhaftig angebetet wird? Fortschreibungen müssen sich daher an der biblischen Botschaft (als norma normans, wie die Reformatoren sagten) ausweisen und im Geist der Buße geschehen. Häufig bestehen sie deshalb auch in der Auslegung früherer Bekenntnisse: So möchte das Heidelberger Bekenntnis (Auszug in RG 265) eine Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses sein.

Dreieinigkeit
3. Beispielhaft zeigt sich die dienende Aufgabe der kirchlichen Bekenntnisse, für alle Menschen den Brunnen des Evangeliums freizuhalten und eine wahrhaftige Anbetung Gottes zu ermöglichen in der Formulierung der Dreieinigkeit, wie sie im Apostolischen Glaubensbekenntnis und im Constaninopolitanum zu greifen ist: Die Anbetung Gottes vollzieht sich darin, dass wir zum Vater durch den Sohn im Heiligen Geist beten.

Vater heisst: Gott als der Allmächtige ist kein anderer als der alles erhaltende Schöpfer; er steht in rettender und fürsorgender Beziehung zu seinen Kindern.

Sohn heisst: Jesus Christus selbst ist wahrhaftiger Gott («wahrer Gott von wahrem Gott»). Das Wort vom Kreuz wäre keine Heilsbotschaft, wenn nicht Gottes Sohn Mensch geworden wäre, er selbst in und mit den Menschen gelitten und das ihnen zustehende Gericht auf sich genommen hätte. Die Rede von der Jungfrauengeburt muss man in diesem Zusammenhang sehen: Wäre Jesus nicht von Anfang göttlicher Natur, also beispielsweise zum Gottessohn erst adoptiert worden, wäre seine ursprüngliche Göttlichkeit gefährdet und mir ihr die Erlösung. Das Bekenntnis von Chalcedon 451 ging an dieser Stelle weiter und gebrauchte den Begriff «Natur»: In der einen Person Jesus Christus ist eine göttliche und eine menschliche Natur.

Bekenntnis in Stein: Das Tympanon von Moissac in Südwestfrankreich.

Diese zeitbedingten Interpretationsbegriffe sind nicht unproblematisch. Aber auch hier sollte man nicht vergessen, dass sie dazu dienen sollten, dass Menschen Jesus als ihren Herrn und Gott bekennen – den Jesus, der als Mensch mit ihnen leiden und mitfühlen kann.

Man sieht: In der Lebenspraxis des Glaubens und des Lobens passt das gut zusammen, während es logisch (als «Zwei-Naturen-Lehre») schwer zusammenzubringen ist. Martin Luther lässt im Kleinen Katechismus deshalb schon die Kinder lernen: «Ich glaube, dass Jesus Christus, wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geboren und auch wahrhaftiger Mensch von der Jungfrau geboren, sei mein HERR …»

Geist heisst: Ohne diese göttliche Kraft, die zugleich ein wirkliches Gegenüber ist, könnten wir gar nicht zum Glauben kommen, gäbe es keine Kirche und gäbe es keine Auferstehung. Es ist der gleiche Geist, der Jesus von den Toten auferweckt hat, der nun in den Glaubenden selbst wirkt. Der Geist will selbst nichts anderes, als dass Gott verherrlicht wird. Die Bescheidenheit, nicht selbst im Fokus der Anbetung zu stehen, macht auch seine Besonderheit aus: Er wirkt in den Menschen zu allen Zeiten und in aller Welt, um sie zur Anbetung Gottes zu führen. Auch wenn es wenige explizite Anrufungen des Geistes gibt, sagt das Constaninopolitanum zu Recht: «… der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird».

Gegenüber einem häufigen Missverständnis gilt es zu beachten, dass im Apostolischen Glaubensbekenntnis die Kirche an diesem Ort genannt wird: Die Kirche, die Gegenstand des Glaubens ist, ist die geistgewirkte Kirche. Diese ist unter den realen und erfahrbaren Erscheinungsformen, an denen man häufig zweifeln und manchmal gar verzweifeln mag, verborgen. Weil sie unseren Augen verborgen ist, muss sie geglaubt werden!

Der Gott, der sich ganz aufmacht
4. Insgesamt soll die alte Bekenntnisbildung der Dreieinigkeitslehre und der Christologie festhalten: Wir haben einen Gott, der uns entgegenkommt, ins Menschliche kommt, verletzlich wird – um uns zurückzuholen. Und der uns nicht allein lässt. Der sein Werk durch seinen Geist weiterführt. Der Herzen gewinnen will.

Nicht umsonst liefert der Christushymnus in Philipper 2 die Hintergrundfolie für die Bildung der ersten Bekenntnisse: Dieser Hymnus lobt Gott, dass er sich bis zum Tod am Kreuz herablässt. Die Pointe der Lehre der Dreieinigkeit, besteht, um es noch einmal anders zu formulieren, darin: Die ganze Gottheit macht sich auf, die verlorene Schöpfung zurückzuholen. Es ist sozusagen eine konzertierte gemeinsame Aktion, eine geradezu dramatische Aktion, die hier im kollektiven Gedächtnis der Kirche festgehalten ist.

Wo sich das Bekenntnis bewährt
5. Die Bewährung findet ein solches Bekenntnis nicht durch Abstimmungsprozesse und auch nicht durch die Festlegung kirchlicher Synoden oder Konzile. Die Bewährung eines Bekenntnisses vollzieht sich als Selbstbewährung im Vollzug des Glaubens und des Gottesdienstes – dort, wo das Evangelium zur Geltung kommt und Menschen zum persönlichen Bekenntnis und Lobpreis kommen.

Die Wahrnehmung dieser Aufgabe des Bekenntnisses enthält zugleich eine Warnung vor eine «Ethisierung» des Bekenntnisses. Sicherlich gehört es zur prophetischen Aufgabe der Kirche, hinzustehen und ethisch Position zu beziehen. Man sollte eine solche Position aber keinesfalls in den Bekenntnisrang erheben. Denn nicht (richtiges) menschliches Handeln ist das Thema eines Bekenntnisses, sondern das göttliche Handeln! Der Schweizer Theologe K. Barth, der 1934 federführend an der Formulierung der «Barmer Theologischen Erklärung» beteiligt war, wusste das und hat immer wieder betont: Bei den diktatorischen Machtansprüchen der Nationalsozialisten geht es nicht um ethische Fragen, sondern um die Gottesfrage.

Es ist die Aufgabe eines Bekenntnisses, dazu zu verhelfen, dass Menschen sich zu Christus als ihrem Herrn stellen, ihn bekennen und in den Lobpreis Gottes einstimmen. Das hat Konsequenzen: Die eingangs erwähnte Identität ist durch lehrmäßige Richtigkeit noch nicht gewährleistet, sondern erst durch Gottesdienste, in denen solches praktisch geschehen kann.

Es bedeutet schließlich auch: Bekenntnistreue ist ins Gegenteil verkehrt, wenn das Bejahen von Lehrinhalten lediglich zur Grenzziehung verwendet wird. Bekenntnistreue ist es vielmehr – auch bei allen lehrmäßigen Abgrenzungen – letztlich um eine Verkündigung und einen Gottesdienst zu tun, welcher in rechter Weise allen Menschen der Zugang zum Evangelium offen hält. Damit kommt zum Tragen, dass es der Kirche nicht um sich selbst geht, sondern um die Welt, in die sie gesandt ist.


Hans-Martin Rieger, Dr. theol., versieht mit seiner Frau Karin das Pfarramt von Heimiswil bei Burgdorf und ist apl. Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Jena.