«Abhängigkeit ist fast zum Schimpfwort geworden»
Der erfolgreichste Verein lädt zum ‚Freitod‘ ein. Wohin driftet damit die Schweizer Gesellschaft? Für die theologische Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle schlägt die herrschende Verbrauchsmentalität auf den Umgang mit dem eigenen Leben durch. Im LKF-Interview weist sie auf die Illusionen hin, die in der Suizid-Debatte gehegt werden, und fordert die Kirchen heraus, das christliche, integrative Menschenbild zum Tragen zu bringen. Und wendet sich dagegen, dass Selbsttötung zum Event stilisiert wird.
LKF: Wie steht die Schweizer Gesellschaft heute zu Suizid und Suizidbeihilfe?
Ruth Baumann-Hölzle: Ein gesellschaftlicher Klimawandel hat stattgefunden. Suizid und Suizidbeihilfe werden heute bei Menschen in speziellen Abhängigkeitssituationen oft nicht mehr als tragische Entscheidung und Handlung wahrgenommen, sondern gelten als eine Option neben andern.
Derzeit kommt es zu weiteren Veränderungen: Suizidbeihilfe-Organisationen fokussieren zunehmend auf alte Menschen als solche; es geht dabei immer weniger um die Selbsttötung als Verzweiflungshandlung bei unerträglichem Leiden. Sondern der alte Mensch wird eingeladen, sich ‚frei‘ zum Suizid zu entschliessen, den sogenannten ‚Freitod‘ zu wählen, als souverän-rationales Wesen, das über Leben und Tod verfügt und verfügen will. Ich denke, dieser Anspruch wird von der Gesellschaft schon seit längerem anerkannt. Das Bundesgericht hat in seinem Urteil den Anspruch auf Suizidbeihilfe verneint, aber zunehmend wird von der Gesellschaft gefordert, Suizidbeihilfe zu ermöglichen, auch in Pflegeheimen.
Wird so Betagten suggeriert, es wäre Zeit zu gehen?
Man verkennt, welche Signale wir an alte Menschen senden, an multimorbide und jene, die an Demenz erkranken werden. Die Gefahr ist, dass der ‚Freitod‘ nicht nur ermöglicht, sondern letztlich gefordert wird. Es kann ein gesellschaftlicher Druck auf alte und/oder pflegebedürftige Menschen entstehen, der Gesellschaft nicht zur Last zu fallen. Die Debatte über die hohen Kosten des Gesundheitswesens fürs letzte Lebensjahr kann dazu führen, dass es als ‚würdig‘ gilt, sogenannt ‚selbstbestimmt‘ mit Suizid aus dem Leben zu scheiden.
Ist das die Schattenseite des Lebensstils der Generation der 70-90-Jährigen, die wie keine vor ihr das Leben im Diesseits erfolgreich und sonnig gestalten konnte?
Marianne Gronemeyer hat in ihrem Buch „Das Leben als letzte Gelegenheit“ eindrücklich den Erlebnisdruck beschrieben, der mit dem Verschwinden der Jenseits-Hoffnung in der Moderne aufkommt: Im Diesseits sind die Gelegenheiten bis zum letzten auszuschöpfen, auszupressen. Die Welt ist insgesamt Material geworden, das wir gestalten. Die Verbrauchsmentalität, die wir der Natur gegenüber haben, schwappt über auf die Haltung dem eigenen Leben gegenüber. Es wird nicht mehr als Vorgegebenes betrachtet, das man pflegen, schützen und bewahren soll. Vielmehr will man es wie Material souverän gestalten und formen.
Erreicht man die Grenze der Gestaltbarkeit, wird die Selbsttötung oft zum Event, als letzter und grösster Akt der Freiheit stilisiert. Dabei können wir das alles ja nur tun, weil wir das Leben geschenkt erhalten haben! Die Welt hat uns Lebensmittel zur Verfügung gestellt. Wir sind nur dank vorgegebenen Beziehungen Menschen geworden. Dies blendet der völlig aus, der sich töten will.
Ist die Energie zum Leben verbraucht, nutzt man den letzten Rest, um nicht in Abhängigkeit zu geraten…
Wir leiden daran, dass wir die Abhängigkeiten, in denen wir leben, nur noch negativ sehen. Abhängigkeit ist fast zum Schimpfwort geworden. Wir blenden aus, wie stark wir für ein gelingendes Leben aufeinander angewiesen sind. Kein Mensch kann ohne andere ein gutes Leben führen! Wie gestalten wir miteinander Situationen der Krankheit und Schwäche, in denen wir an Grenzen kommen?
Wir hangen heute der Illusion eines unabhängigen, rationalen Individuums auf, das nicht nur autonom, sondern autark lebensfähig ist. Wir materialisieren und verbrauchen uns selbst. Die Frage ist, nach welchem Bild des Menschen? Es ist nicht der in Beziehungen eingebundene und auf Andere angewiesene Mensch, sondern der Herrenmensch Nietzsches, der über alles verfügen will. Dahinter steckt ein unglaublicher Machtanspruch. Der Suizid und die Beihilfe werden nicht mehr als tragisches Ereignis gewertet, sondern er ist Ausdruck dieser Handlungsmacht.
Ursprünglich wollte der Schweizer Gesetzgeber Angehörige von schwer Leidenden und Sterbenden vor der Verurteilung schützen.
Das geltende Gesetz passt immer noch: Als ultima ratio, in einer extremen Leidenssituation, können der Suizid und die Beihilfe dazu von sich liebenden, miteinander leidenden Menschen der letzte Ausweg sein. Der Gesetzgeber ging aber von tragischen Einzelfallsituationen aus und nicht von Organisationen, die Suizidbeihilfe zur Dienstleistung machen und mit ihr Geld verdienen. Das Bundesgericht hat die Grenze festzuhalten versucht: Suizid und Suizidbeihilfe als privates Geschehen – ohne dass die Tötung als Handlungsoption im Sinne eines Anspruches an den Staat gestellt werden kann.
Welche Rolle spielen Medien?
Sie transportieren den Zeitgeist des völlig rationalen unabhängigen Individuums. Die Freitod-Botschafter sind erfolgreiche, starke Menschen. Das ist das Gefährliche für Menschen, die abhängig und krank sind. Wenn Suizid und Suizidbeihilfe als naheliegend hingestellt werden, wird ihre Würde in Frage gestellt. Der Schritt von da zur Fremdtötung ohne Einwilligung ist klein. Auch in der Schweiz haben wir in 0,4 Prozent der Todesfälle Tötungen ohne Einwilligung – worüber man nicht spricht.
Davon abzugrenzen sind Sedierungen am Lebensende. Diese stellen eine Grauzone dar, die sich nie ganz vermeiden lässt. In der Öffentlichkeit besteht die Tendenz und auch Gefahr eines Schwarz-Weiss-Denkens: Menschen sollen der Gesellschaft nicht mehr zur Last fallen. Nur, was heisst das?
Wie schafft es die Kirche, die Diesseits-Verengung in der Gesellschaft aufzubrechen und vom ewigen, nicht machbaren Leben zu reden?
Wir leben nicht aus uns selbst, das Leben ist immer für alle ein Geschenk: Das macht uns unsere primäre Abhängigkeit bewusst. Am Anfang unseres Lebens stehen Empfangen und Staunen, nicht Können und Autonomiefähigkeiten. Empfange ich keine Zuwendung, kann Leben nicht gelingen. Das Bewusstsein der Transzendenz – dass wir nicht absolut über uns verfügen können – und ein integratives Menschenbild zu verkörpern, ist ein Grundauftrag der Kirchen. Das Leben von Jesus Christus hat sich in Schwäche und Leiden vollendet. Nur wenn wir auch Leiden und gegenseitige Abhängigkeiten als zum Menschsein gehörend wahrnehmen, kann Leben gelingen.
Jesus ist der Auferstandene. Er stiftet die Hoffnung auf eine Vollendung des Lebens jenseits des Todes. Wie kommt diese Hoffnung zur Geltung?
Wenn ich mir meines Herkommens bewusst bin – dass ich über mein Dasein nicht verfüge –, habe ich die Chance zu erkennen, dass ich irgendwohin gehe. Und dass ich Verantwortung trage, mein Leben als Antwort auf das Geschenk des Lebens mit seinen fantastischen Möglichkeiten hin zu führen. Das säkulare, einseitige Autarkie-Denken als Grundkrankheit unserer Gesellschaft lässt keinen Raum, weder für eine Hoffnung auf jenseitiges Leben noch für Dankbarkeit für das, was ich empfangen habe.
Wie kann theologische Ethik im säkularen Kontext vom ewigen Leben reden?
Es gilt das Bewusstsein dafür zu schaffen, woher wir kommen und dass wir uns das Leben selbst nicht geben. Von da können wir die Linie ausziehen zur Hoffnung auf Auferstehung: dass der Tod nicht ein Punkt, sondern ein Doppelpunkt ist. Wir haben Sterben und Tod letztlich nicht in der Hand.
Man kann mit noch so hartgesottenen Intensivmedizinern reden – im vertraulichen Gespräch bezeichnen sie den Tod als Mysterium. In der Öffentlichkeit aber wird das Geheimnis des Sterbens tabuisiert. Das Mysterium wird auch in der Suizidbeihilfe tabuisiert. Wir stellen uns ihm nicht, weil es nicht beherrschbar ist und wir uns unsere existentielle Abhängigkeit eingestehen müssten.
Die theologische Ethikerin Dr. Ruth Baumann-Hölzle leitet das Institut Dialog Ethik in Zürich.