Von der Sehnsucht nach der heilen Familie

Die Beraterin und Erwachsenenbildnerin Ruth Schmocker-Buff lädt Kirchgemeinden ein, Paaren auch nahe zu sein, wenn ihre Wünsche sich nicht erfüllen.

Kaum ein Lebensbereich ist so stark mit Sehnsüchten besetzt wie die Familie. Sie ist der Ort, wo wir bewusst oder unbewusst das verlorene Paradies suchen. Wo sonst sollen wir Geborgenheit, Zugehörigkeit und Frieden finden, wenn nicht dort, wo wir „zuhause“ sind?

Ich begegne in meiner Beratertätigkeit vielen Männern und Frauen, die von ihren Partnern, ihren Eltern oder ihren Kindern enttäuscht sind, denn wo hohe Erwartungen sind, gibt es auch viele Frustrationen. Nirgends wird so viel geliebt, gelitten und gehasst wie in der Familie.

Für mich ist Sehnsucht religiös gesehen ein Ahnen von dem, was die Bibel am Anfang in der Genesis als „Paradies“ und am Ende in der Offenbarung des Johannes als den „neuen Himmel“ beschreibt. Anders gesagt: Wir tragen eine Erinnerung in uns an den Ort, von dem wir kommen, und eine Ahnung von dem Ort, wohin wir gehen, denn „von Ihm und zu Ihm sind alle Dinge geschaffen“. Von Gott kommen wir und zu Gott gehen wir.

Wenn unsere Sehnsucht nach der heilen Familie aber letztlich ein Sehnen nach der Transzendenz ist, so ist sie in Bezug auf die Familie eine Illusion! Wir sind nicht Gott. Wir sind Menschen. Wir können die tiefste Sehnsucht der andern nicht stillen, und die andern können auch unsere eigene Sehnsucht nicht stillen. Das ist eine Überforderung für unsere Nächsten und für uns selber.

Natürlich macht es für die Kirche Sinn, sich nährend um Familien zu kümmern. Aber wo ist die Kirche, die nicht nur Trauungen anbietet, sondern Paaren auch hilft, mit einem lösenden Ritual eine Ehe im Geist der Versöhnung zu beenden? Wo kommen Geschiedene, Alleinerziehende oder Patchwork-Familien in den Angeboten der örtlichen Kirchgemeinden vor (ausser bei den kantonalen Beratungsstellen)?

Wo sind die Christen, die an der Basis diesen Menschen Bruder oder Schwester sind und sich mit ihnen auf die gleiche Stufe stellen – nicht aus sogenanntem „Erbarmen“, sondern aus dem Wissen um die eigene Schwachheit? Es darf nicht sein, dass diese Menschen keinen Platz mehr in der Kirche haben, ihre Abwesenheit nicht bemerkt oder einfach hingenommen wird.

Anselm Grün spricht von der „Theologie von unten“. Er meint damit eine Theologie, die sich am Menschsein und dessen Grenzen orientiert – im Gegensatz zur Theologie von oben, die von Idealen ausgeht. In der Familie werden wir ganz Mensch. Da stossen wir an unsere Grenzen. Da erfahren wir, wer wir wirklich sind. Da muss das Wort „Fleisch“ werden.

Das könnte heissen: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet!“ oder „Strebt nicht nach unerfüllbaren Idealen, sondern nehmt die ‚irdenen Gefässe’, die Zerbrechlichkeit und die Verletzlichkeit des menschlichen Seins ernst!“ Da hat die unausgesprochene Forderung, dass man es eben eigentlich doch schaffen müsste, zusammen zu bleiben, keinen Platz. Da geht es darum, Wunden zu verbinden, Wege der Versöhnung aufzuzeigen und neues Leben zu wagen.

Letzthin war ich Gast an einem Hochzeitsfest. Für die Augen der Gäste fast unsichtbar geschah an diesem Fest ein Stück Versöhnung: Die Mutter des Bräutigams hat nach jahrelangem Streit an der Hochzeit ihres Sohnes mit ihrem Ex-Mann getanzt, und der Vater hat sich bei seiner Ex-Frau für das bedankt, was sie in all den Jahren für ihre gemeinsamen Kinder getan hatte. Für den Sohn war dies das schönste Hochzeitsgeschenk.

Hinter solchen Gesten der Versöhnung steht ein weiter Weg – ein Weg voller Schmerz und voller Selbsterkenntnis, ein Weg, der unsere Achtung verdient und der immer auch Geschenk ist.
 

Ruth Schmocker-Buff ist Beraterin mit eigener Praxis. Sie lebt in Burgdorf. Homepage

 

"Wo kommen Geschiedene oder Alleinerziehende in den Angeboten vor?": Ruth Schmocker.