• Vom Gemeindebau in Ostdeutschland lernen

    Zugang zum Glauben schaffen, wo die Kirche der Vergangenheit zugewiesen wurde: Domplatz in Erfurt. Leben und Dienen im Plattenbaugebiet: Infos der Gemeinschaft Jesus Project am Kongress mission-net in Erfurt, Dezember 2011.
    Auch Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung sind in Ostdeutschland die Folgen der SED-Herrschaft spürbar. Für Christen stellt das stark säkularisierte Umfeld eine grosse Herausforderung dar. Was bedeutete es, in der DDR Christ zu sein? Und wie baut man Gemeinde in einem atheistisch geprägten Umfeld? Auf einer Studienreise nach Erfurt suchten Studierende der STH Basel Antworten auf diese Fragen, um dadurch Rückschlüsse für den Gemeindebau in der Schweiz zu ziehen. Philipp Widler berichtet.

    Um die heutige Situation der Christen in Ostdeutschland zu verstehen, ist es wichtig, einen Blick in die Zeit der DDR zu werfen. Der Staat duldete die Kirchen, aber überwachte sie und erzog die Kinder und Jugendlichen zur Gottlosigkeit. Von Christen verlangte er oft kleine Kompromisse, die in der Summe grössere Bedeutung bekamen. Über Kollektivbelohnungen und -bestrafungen versuchte die DDR-Führung, Individuen zu linientreuem Verhalten zu zwingen. Ein Gesprächspartner erzählte von seiner Weigerung, die staatliche Jugendweihe (Treuegelöbnis auf den sozialistischen Staat), abzulegen. Das führte dazu, dass die ganze Klasse nicht auf die langersehnte Klassenfahrt durfte. Viele Klassenkameraden sprechen deshalb noch heute kein Wort mit ihm.

    Man war entweder linientreu oder in einer Nische
    Trotzdem gab es ein kirchliches Leben, das sich als Folge dieser Situation jedoch stark nach innen ausrichtete. Die DDR war ein Staat, in dem alle entweder linientreu waren oder in ihrer Nische lebten. Viele Gemeinden wurden zu solchen abgesonderten Nischen. Entsprechend stark war der Zusammenhalt der Christen, auch über die Konfessionsgrenzen hinweg. Die Gemeinde wurde als wohliger Ort der persönlichen Freiheit und familiärer Gemeinschaft wahrgenommen.

    Diese Gemeindestrukturen änderten sich nicht automatisch mit der Wende. Die Öffnung der Kirchen auf die säkulare Gesellschaft hin ging und geht viel langsamer voran als die politische Öffnung. Das neue System der Freiheit und Unabhängigkeit hat Anpassungen erfordert und viel Energie gebunden, so dass es eher zu einer Stagnation und Lähmung der Gemeinden kam und die neue Freiheit nicht genutzt wurde.

    Vorurteile
    Zumal sich mit der Wende die Prägung der Gesellschaft durch die SED nicht einfach verflüchtigt hat. Laut Pastor Raimund Puy von der FEG Erfurt haben viele Leute 40 Jahre lang gehört, Glaube sei nur etwas für Dumme und Schwache. Da die meisten sich weder als dumm noch als schwach ansehen, ist für diese Generation die Hemmschwelle, in die Kirche zu kommen, nach wie vor sehr hoch. Bezeichnend dafür ein Erfurter, der auf die Frage, ob er an Gott glaube, antwortete: „Nein, ich bin eher so ein Normaler.“ Zu den Vorurteilen kommt oft eine völlige Unkenntnis des Christentums. Pastor Udo Hermann von der Baptistengemeinde: „Im Osten begegnen dir Menschen, die schon vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben.“

    Neuorientierung nach aussen
    Trotz diesen Umständen ist bei Erfurter Gemeinden eine Neuorientierung nach aussen im Gang. Zum einen fehlt heute bei vielen Jugendlichen die negative Prägung; damit sinkt die Hemmschwelle. Zum andern wächst unter Christen das Bewusstsein um den evangelistischen Auftrag mit der Frage: „Wie erreichen wir diese säkulare Gesellschaft?“

    Jüngerschaftscamp
    Nach wie vor erachten die meisten Pastoren die Freundschaftsevangelisation als das wichtigste Instrument. Dementsprechend besteht das erste Missionsfeld darin, selbst von Jesus begeistert zu sein und Kontakte zu pflegen. Angesichts der atheistischen Herausforderung wird aber auch die Schulung in Evangelisation als wichtig erachtet. Bei der FEG Erfurt gibt es dazu das „Forum Evangelisation“. An offenen Gesprächsabenden erörtern Christen beispielsweise, wie man mit Nichtchristen reden soll. Für die christliche Jugend Erfurts ist „Summer Ride“, ein christliches Jüngerschaftscamp, ein Ort, um Kommunikation zu üben. Die Baptisten bieten „belonging before believing“ an: Interessierte können zur Gemeinde gehören und mitarbeiten, ohne dass man das von ihrem Glauben abhängig macht.

    Im öffentlichen Raum
    Daneben gibt es auch vermehrt Versuche, die Gemeinden nach aussen hin sichtbar zu machen. Für viele Gemeinden sind attraktive Räumlichkeiten wichtig. Die baulichen Investitionen zu tragen ist aber schwierig, da die finanziellen Möglichkeiten beschränkt sind. Sichtbar werden wollen die Gemeinden auch durch Anlässe im öffentlichen Raum und die Präsenz an Strassen- und Stadtfesten.

    Die katholische Kirche versucht mit dem sogenannten „Nightfever“, kirchendistanzierte Menschen auf eine niederschwellige Art und Weise zu erreichen. Einmal im Monat erhalten Passanten Kerzen geschenkt und werden eingeladen, diese in der Kirche anzuzünden. Dort besteht die Möglichkeit zu verweilen und zur Ruhe zu kommen. In andächtiger Atmosphäre wird kirchenfernen Leuten die Möglichkeit geboten, positive Erfahrungen mit Kirche und Spiritualität zu machen. Für viele ist Weihnachten ein hochemotionales Fest, dessen Sinn schwierig auszumachen ist. Der evangelische Pfarrer Ricklef Münnich sieht da die Chance, Menschen niederschwellig zu erreichen und in einer vollen Kirche das Christentum als Möglichkeit der Sinngebung zu vermitteln.

    Wenn Vorwissen fehlt…
    Gemäss Pastor Manfred Obst von der Pfingstgemeinde hat das offensiv-evangelistische Auftreten wieder mehr Wirkung, durch das meist fehlende Vorwissen häufig sogar mehr als im Westen. Auch die Offenheit für das Gebet, sogar bei Begegnungen auf der Strasse, scheint im Osten aufgrund der fehlenden Erfahrungen eher grösser. (Perspektiven von Manfred Obst für den Gemeindebau in den Neuen Bundesländern)

    Miteinander leben im Plattenbau
    Bis anhin kein grösseres Gewicht hat für die von uns besuchten Gemeinden das soziale Engagement. Beachtliches leisten in diesem Bereich v.a. christliche Werke wie das Jesus Project. 10 Personen wohnen im Plattenbau-Wohngebiet Roter Berg, wo viele Bewohner die Wiedervereinigung als Wende zur Hoffnungslosigkeit erlebt haben. In einer Werkstatt bietet das Jesus Project Straffälligen die Möglichkeit, gemeinnützige Stunden zu leisten. Auch Arbeitslose können hier erste Schritte in Richtung normalen Arbeitsmarkt machen.

    Daneben wird versucht, mit Glaubenskursen, Gottesdiensten, kulturellen Veranstaltungen, Streetwork und Seminaren die Personen in diesem extrem schwierigen Umfeld zu erreichen. Am Anfang vor 8 Jahren stiess man damit bei der ausgeprägt konfessionslosen Bewohnerschaft auch auf aggressive Ablehnung. Inzwischen aber kennt man hier das Werk und hat viele Vorurteile abgebaut. Allein dies ist schon ein Erfolg für diese Initiative.

    Mit Säen anfangen
    Fazit: Mission in einem stark atheistisch säkularisierten Gebiet ist harte Knochenarbeit, die viel Ausdauer erfordert. Bei allen Nachteilen schafft die Säkularisierung auch Möglichkeiten. Wer frei von Vorkenntnissen ist, hat weniger oder keine Vorurteile. Und so bietet sich die Chance, dass Menschen Spiritualität und begeistertes Christsein erleben. Dazu müssen die Gemeinden aber bewusst die Gesellschaft in den Fokus nehmen und sie mit dem Evangelium erreichen wollen. Denn wie Pastor Manfred Obst es formulierte: „Wenn man im Osten nicht anfängt zu säen, wie will man dann ernten?“ Die Erkenntnis, dass die Weitergabe dort anfängt, wo Christen selbst begeistert sind für ihren Glauben, ist für uns genauso aktuell wie für die Christen in Erfurt – egal wie säkularisiert unsere Gesellschaft schon ist.