Umfrage: Perspektiven der Diakonie

Für das Diakonie-Dossier hat das LKF Anfang 2011 vier Diakonie-Fachleute befragt: Marlise Schiltknecht (LK SG), Astrid Schatzmann (Kirchgemeinde Birr AG), Andreas Jakob (LK ZH) und Stephan Schranz (refbejuso). Die Antworten sind hier weitgehend ungekürzt dokumentiert. Die Stellungnahmen spiegeln die Vielfalt der Sichtweisen und Denkansätze in der Diakonie der reformierten Kirchen der Deutschschweiz.

Die Fragen:
Wie definieren Sie Diakonie?
Was hebt Diakonie von Sozialarbeit ab?
Welche Inhalte und Aspekte des Evangeliums sind im Sinne einer diakonischen Kirche stärker zu gewichten?
Welche Arbeitsfelder und Stossrichtungen von Diakonie sehen Sie für die nächsten Jahre als prioritär an?
Für wen muss die Kirche ihre Stimme erheben und wie?
Welche Faktoren sind für Gemeindediakonie wesentlich?
Wann ist Diakonie überprofessionalisiert? Welche Bedeutung hat das Anleiten und Motivieren von Freiwilligen?
Wie unterstützt Ihre Kirche Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone in den Gemeinden?
Wie trägt Diakonie zur Gemeindeentwicklung bei?

 

Wie definieren Sie Diakonie?

Marlise Schiltknecht: Nächstenliebe, die überall dort arbeitet, wo Unrecht, Not und Ausschluss regiert.

Andreas Jakob: Diakonie ist tätige Nächstenliebe und Ausdruck gelebten Glaubens (Art. 65 Zürcher Kirchenordnung). Diakonie und Seelsorge wenden sich beide dem Mitmenschen zu, Diakonie in sozialer, Seelsorge in seelischer Hinsicht. Die Diakoniegeschichte der Kirche verweist auf die Sozialgeschichte der christlich geprägten Gesellschaften, in der das Individuum in einer solidarischen Beziehung mit seinem Nächsten und der Gemeinschaft steht. Diakonie lässt sich deshalb als Sozialsorge umschreiben.

Stephan Schranz: "Diakonie ist nicht nur Hilfe unter Protest, sondern auch Teil des Schönerwerdens der Welt" (Michael Chalupka). Diakonie setzt die Vision nach Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung im Alltag aller Menschen um.
Der Genuss, mit andern zu feiern, hindert nicht daran sich in der direkten Hilfe die Hände schmutzig zu machen und Unrecht bei den Wurzeln anzupacken.

Astrid Schatzmann: Unter Sozialdiakonie verstehe ich das Amt des Dienens aus von Gott geschenkter Liebe zu ihm – und damit zu den Mitmenschen, welche durch diese Begegnung zu Nächsten werden – im Auftrag der Kirche. Dieses Dienen beinhaltet die karitative Sorge für die Lebensbedürfnisse, das Erstellen der Kollektenpläne, Führungsaufgaben, Gebet, Seelsorge und Katechese. Es bietet Möglichkeiten, Notlagen bewältigen und schwierige soziale Situationen bessern zu können, und hat den Menschen in seiner Ganzheit im Blick. Diese Tätigkeiten sind praktische Verkündigung des Evangeliums. Sozialdiakonie ist immer eine Dienstleistung zugunsten des anderen. Sie findet in unserer Zeit aber nicht allein im persönlichen Zusammentreffen statt, da ein politischer, gesellschaftlicher und rechtlicher Einsatz zur Veränderung der Lebensbedingungen genauso diakonische Wirkung entfalten kann.

 

Was hebt Diakonie von Sozialarbeit ab?

Stephan Schranz: Diakonie hat eine prophetische, spirituelle Dimension, welche die religionsneutrale Soziale Arbeit des Wohlfahrtstaates nicht einnehmen darf.

Andreas Jakob: Diakonie und Sozialarbeit unterscheiden sich in ihrem Selbstverständnis. Diakonie geschieht aufgrund des Evangeliums. Das diakonische Handeln der Kirche „wendet sich allen Menschen zu“ (KO ZH, Art. 65,1):

• So wie Gott in Jesus jeden Menschen liebt (jedes Menschen Diakon ist), hat jeder Mensch seines Nächsten Diakon zu sein.
• Diakonie heisst, dem Hilfsbedürftigen die Hilfe zu geben, die er braucht. Diakonie heisst die Not abzuwenden, die den Nächsten trotz eigenem Bemühen Not leiden lässt.
• Diakonie als Nächstenliebe heisst auch, dem „Feind“ zu helfen.
• Diakonie ist ein gegenseitiges und wechselseitiges Geschehen, wer heute hilft, bedarf morgen selber der Hilfe.

Diakonie ist die jeden Christenmenschen prägende Lebenshaltung und darum nicht delegierbar.

Diakonisches Handeln als berufliche Tätigkeit wird gemäss der Deutschschweizerischen Diakonatskonferenz DDK und dem Deutschschweizerischen Berufsverband SAG als Sozialdiakonie bezeichnet. Bevor nach dem Unterschied zwischen Diakonie und Sozialer Arbeit gefragt wird, ist dieser Unterschied hervorzuheben: Diakonie als Auftrag und Proprium der Kirche betrifft alle Mitglieder. Sozialdiakonie versteht sich als eine dem diakonischen Auftrag folgende Berufstätigkeit. (Gemäss Kirchenordnung nimmt auch das Pfarramt den diakonischen Auftrag wahr.)

Sozialdiakonisches Handeln geschieht also im Kontext von Anstellung und Entlöhnung mit einem professionellen Auftrag, z.B. auf der Grundlage von Konzepten (mit Jugendlichen oder mit MigrantInnen), in Funktionen (beratend, ausbildend, organisierend), und erfordert deshalb professionelle Kompetenzen. Selbstredend erwartet die Kirche, dass auch Berufspersonen sich von der diakonischen Lebenshaltung leiten lassen.

Demgegenüber geschieht Soziale Arbeit aufgrund eines gesetzlichen Auftrages fast ausschliesslich in einem professionellen Kontext als bezahlte Arbeit. Den Rahmen bilden Verfassung und öffentliches Recht: Soziale Arbeit hat gesetzlich definierte soziale bzw. individuelle Problemen und Notlagen in der Gesellschaft zu lindern, zu bewältigen oder zu lösen. Zum Beispiel mit unterstützenden Massnahmen wie Drogenberatung, ergänzenden Massnahmen wie wirtschaftlicher Sozialhilfe oder ersetzenden Massnahmen wie Kinderheimen. Auftraggeber ist meist der Staat, oft delegiert er Aufgaben der Sozialen Arbeit an private Organisationen oder an öffentlich-rechtliche Körperschaften wie auch an die Kirche. Beispiele dafür sind die ökumenische Paarberatung oder das Stellennetz. Finanzierung und Aufsicht bleiben in der staatlichen Verantwortung.

Diakonie und Soziale Arbeit unterscheiden sich somit vom Auftrag her grundlegend voneinander. Die Kirche kann beides tun und tut es auch.

Diakonisches Handeln und sozialarbeiterisches Handeln gleichen sich indes in ihren Arbeitsformen, Methoden und Werkzeugen sehr. Man kann nicht diakonisches oder sozialarbeiterisches Beraten bzw. diakonisches oder sozialarbeiterisches Projektmanagement unterscheiden.

Marlise Schiltknecht: Diakonie nimmt den Auftrag aus dem Evangelium: „Lernt Gutes tun, sorgt für Gerechtigkeit, haltet die Gewalttätigen in Schranken, helft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht!“ Jesaja fordert uns zum Handeln in allen Dimensionen auf.
Sozialarbeit erfüllt mehrheitlich einen gesetzlichen Auftrag, sie hat ihren Ursprung in der Diakonie und beruht oft auch auf einem christlichen Menschenbild. In der Diakonie ist die Wissenschaft der Theologie mit der Wissenschaft der Sozialen Arbeit verbunden.
Eine Frau, die auf der Gasse gelebt hat, benannte den Unterschied wie folgt: „Wenn niemand mehr da war, niemand mehr zuständig schien – die Kirche kümmerte sich.“ Diakonie soll ergänzen, auffüllen, neu machen. Je mehr Netze übereinander liegen, umso unwahrscheinlicher ist es, dass jemand durch die Maschen fällt.

Astrid Schatzmann:In der Grundeinstellung, dem zeitlichen Ursprung, der Trägerschaft und den Inhalten.
Grundeinstellung: Während die Diakonie klar auf christlichem Auftrag und christlicher Motivation fundiert und sich am Evangelium orientiert, nach Haslinger (171 – alle Quellenangaben am Schluss) die Begegnung mit Armen überdies ein Ort der Offenbarung Gottes ist, werden die gemeinsamen Grundlagen der Sozialen Arbeit in „überzeitlichen menschlichen Pflichtaufgaben als Urphänomen“ gesucht und weiterhin „ideologische Grabenkämpfe“ geführt (Müller 749-750). Für Daiber (100) wird Diakonie zur sozialen Arbeit und ist nicht länger Diakonie, sobald Zweifel an der Einheit von Zeugnis, Dienst und Gebet bestehen. Zum Unterschied in der Grundeinstellung schreibt Haslinger (172): „Das ‚Mehr’ diakonischen Helfens … ereignet sich auf Seiten des Seelsorgers …, wenn er beginnt, mit den Augen des Glaubens auf den anderen zu schauen.“
Die Wurzel diakonischen Handelns ist, dass es einen berührt, dass man gerührt ist. Der signifikanteste Unterschied scheint gemäss Mk.10,42-45 (nicht sich dienen lassen, sondern dienen) und Joh. 13 (Fusswaschung) der Positionswechsel der helfenden Person zu sein, welcher in der Diakonie nach innen auf die Kirchgemeinde und nach aussen auf die Welt zu finden sein müsste. In der Sozialarbeit kann er höchstens bis auf gleichwertige Ebene vollzogen werden. Benedict (256) beschreibt den Unterschied folgendermassen: „Eine sozioreligiöse Kompetenz wäre das Professionsmerkmal des Sozialdiakons im Unterschied zum Sozialarbeiter“.

Zeitlicher Ursprung: Die Diakonie als Dienst stammt aus der Wirkungszeit Jesu, allerdings werden schon im Alten Testament (z.B. Jes 1,17) die Israeliten ermahnt, Waisen und Witwen zu helfen, Fremde zu achten sowie Masse und Gewichte nicht zu fälschen (Hengsbach 836). Die Soziale Arbeit stammt aus den Ursprüngen der Industriegesellschaft und des Kapitalismus (Müller 750), sie ist also um Jahrhunderte jünger.

Trägerschaft: Soziale Arbeit wird oft aufgrund von Gesetzen und Regelungen der Behörden betrieben. Es bestehen daneben Institutionen, welche Soziale Arbeit anbieten oder ausüben. Träger von professionellen diakonischen Angeboten sind im Normalfall Kirchen oder kirchliche Gruppen und Institutionen; die Diakonie ist ein Teil des aktiven kirchge-meindlichen Lebens.

Inhalte: Zusätzlich zu den karitativen und finanziell unterstützenden Tätigkeiten beinhaltet die Diakonie Handlungsfelder wie Katechese und Mitarbeit in Kirchgemeinde und Gottesdienst. Sie ist Verkündigung des Evangeliums und Wesenszug der Kirche.

 

Welche Inhalte und Aspekte des Evangeliums sind im Sinne einer diakonischen Kirche stärker zu gewichten?

Marlise Schiltknecht: Sich die Fragen neu stellen, wer heute die Waisen und Witwen sind, wer die Gewalttätigen? Wo und wie gilt es, stigmatisierten Gruppen zu ihrem Recht zu verhelfen?

Andreas Jakob: Eine diakonische, reformierte Kirche zeichnet sich durch das Bewusstsein aus, dass Diakonie Lebenshaltung und Auftrag jedes Christenmenschen ist, dass soziale Probleme und Notlagen grösser sein können, als dass sie allein durch individuelles Engagement bewältigt werden könnten. Eine diakonische Kirche wird ihre Professionellen so einsetzen, dass möglichst viele der Gemeinde in das diakonische Handeln einbezogen werden, dass sich die Gemeinde als diakonisch handelnde versteht, dass der Wert gegenseitiger Hilfe und solidarischen Einstehens für andere konkret erfahren wird.

Darüber hinaus wird eine diakonische Kirche sich immer auch den grösseren und komplexeren sozialen Problemen zuwenden – hier zumeist gemeindeübergreifend und in Kooperationen mit anderen Institutionen (z.B. kirchliche Lehrlingsarbeit kabel). Sowohl als Kirchgemeinde wie darüber hinaus gewichtet die diakonische Kirche, mehr als die dem Staat obliegende Sachhilfe, evangelische Werte wie:
• Teilen tut gut.
• Helfen stiftet Sinn.
• Sich dem unerwünschten und verachteten Nächsten zu zuwenden, heilt die Gemeinschaft.

Eine diakonische Kirche soll der „Versuchung“ widerstehen, Diakonie als das Wichtigste der Kirche herauszustreichen. Diakonie zeigt sich im konkreten Tun und nicht in der Behauptung ihrer Wichtigkeit. Diakonie ist nicht das Wichtigste, sondern das Selbstverständliche der Kirche – und ihrer Mitglieder. Sie ist Übungsfeld für uns Menschen, Gottes Menschlichkeit zu leben und zu erfahren.

Astrid Schatzmann: Mk. 10,43-45: Dienst an anderen nicht aus eigener, sondern aus Gottes Kraft. Den Dienst in doppelter Beziehung sehen (wie Paulus): einerseits zu Christus und andererseits zur Kirche und Welt. Dienst ist für Paulus die Verkündigung des Evangeliums (z.B. Kol.1,23) und in den Gemeinden die karitative Betreuung Hilfsbedürftiger (inkl. Kollekte). Ausdruck der Nachfolge in der Liebe Christi in Hilfe für Arme, Elende und Bedürftige. Z.B. Gal. 5,13: Alle Christen und Christinnen sind zur Diakonie aufgerufen. Kurz: Die beidhändige Verkündigung des Evangeliums – eine Hand verkündet mit Worten, die andere mit Taten.

Stephan Schranz: Diakonie als gelebtes Evangelium hinterlässt ohne grosse Worte klare lesbar Abdrücke, ob in der Zuwendung zum Menschen, im Engagement für eine solidarische Weltgesellschaft oder in Ausleben der eigenen Bedürfnissen (z.B. nach Lebensfreude).

 

Welche Arbeitsfelder und Stossrichtungen von Diakonie sehen Sie für die nächsten Jahre als prioritär an?

Andreas Jakob: Der Zürcher Kirchenrat hat als Legislaturziel 2008–2012 formuliert: „Das diakonische Profil der Landeskirche in den Kirchgemeinden, in regionalen Aufgaben und Projekten sowie in der Gesamtkirche ist geklärt, weiterentwickelt und in der Praxis um gesetzt.“ Drei Massnahmen folgen daraus: „Das Diakonie-Konzept ist weiterentwickelt und wird umgesetzt. Zehn bis zwanzig Kirchgemeinden haben familienfreundliche Projekte umgesetzt. Der Migrationsfrage wird hohe Beachtung geschenkt.“

Persönlich finde ich folgende soziale Themen dringlich für unsere Kirche:

• Alter – Würde und Aufgabe
Im gegenwärtigen diakonischen Handeln herrscht noch zu sehr der Ansatz vor, etwas für alte Menschen machen zu müssen. Der diakonische Auftrag ergeht auch an die Alten, die in unserer älter werdenden Gesellschaft zum grossen Teil gesunde und wohlhabende Alte sind. Welches ist ihre Verantwortung? Und wie erkennen sie diese?

• Migration – Kraft und Bedrohung
Fremde haben einst das Evangelium zu uns gebracht; daraus ist Kirche geworden. Die Migrationsbewegungen unserer Zeit, obwohl meist aus schierer wirtschaftlicher Not gesteuert, bedrohen unsere Gesellschaft und zivilisatorischen Errungenschaften (wie z.B. den Sozialstaat) in vielfacher Hinsicht. Ohne falsche Multikulti-Romantik: Wie schafft die Kirche zu den „Fremden“ Zugänge, die für alle fruchtbar werden?

• Wohlstand – Freiheit und Elend
In den saturierten westlichen Gesellschaften, wozu in besonderer Weise auch unsere schweizerische gehört, führt der Wohlstand den Einzelnen und ganze Bevölkerungsschichten in eine neue „Qualität“ des Elendes, den Verlust von Mitmenschlichkeit und Uneigennützigkeit, sei es als Helfender oder Hilfsbedürftiger. Die Logik, Glück sei gleichbedeutend mit Kaufkraft, pervertiert Liebe und Solidarität zu sinnentleerten, käuflichen Objekten. Öffnen sich den Kirchen „dank“ schwindender Finanzkraft neue Spielräume des Wohlstandes, in denen Menschen ihre Freiheit wiederfinden, einander unmittelbar Helfende und Hilfsbedürftige zu sein?

Stephan Schranz: Dass die Kirche ihr enormes diakonisches Engagement nicht mehr unter den Scheffel stellt. Ein Grundkatalog von diakonischen Angeboten der Kirche liesse sich problemlos definieren. Ich träume von einer Kirche, welche diesen Katalog ebenso selbstverständlich erwähnt wie die Gottesdienste.

Marlise Schiltknecht: Die Kirche soll dafür sorgen, dass Armutserfahrene ihre Stimme gegen Ausschluss erheben können und gehört werden. Raum und die nötigen Ressourcen und Begleitung dafür zu bieten, sind Hauptaufgaben der Diakonieverantwortlichen.
Dazu gehört als erstes: Ausschluss aufspüren, wahrnehmen, sich von Not treffen lassen und Begegnung mit den Betroffenen wagen, den Dialog suchen, gemeinsam urteilen und handeln, so dass Veränderung im Sinne der Betroffenen möglich wird. Und zwar nach dem Vorbild von Jesus beim Gang von Jerusalem nach Emmaus.

Astrid Schatzmann: Ich nenne vier Punkte.
• Die Problemsituationen sind immer komplex und es sind in den meisten Fällen mehrere Betroffenheitsgebiete (z.B. Armut, Migration und Arbeit/Bildung) tangiert. Es kann also keine Stossrichtung oder kein Arbeitsfeld als die alleinige Lösungsmöglichkeit betrachtet werden. Es müssen immer zusammen mit der betroffenen Person oder den betroffenen Personen (Familien) differente Möglichkeiten in Betracht gezogen werden. Sobald mehrere Angebote vorhanden sind, werden verschiedene Menschen davon angesprochen.
• Damit die Diakonie/Sozialdiakonie in der Reformierten Kirche ein stabileres Fundament bekommt (zusätzlich zum biblischen Auftrag), ist es unbedingt nötig, dass sie in Kirchenordnung, Leitsätzen und auf der Homepage gezielter und stärker zum Ausdruck gebracht wird.
• Die Bildung kirchlich-regionaler Sozialdiakoniedienste wäre hilfreich. Das Ziel ist weder, die staatlichen Sozialdienste zu ersetzen, noch Gelder zur Existenzsicherung zu vergeben. Vielmehr brauchen betroffene Menschen jemanden, der sich Zeit für sie nimmt und sie vernetzen, zwischendurch evtl. auch eine Dienstleistung oder einen Besuch durchführen oder organisieren kann. Insbesondere da Sozialdienste und Hausärztinnen/Hausärzte zu wenig Zeit für Gespräche haben und oft nur auf einen Aspekt fokussieren können, braucht es Anlaufstellen, bei denen die Menschen ganzheitlich wahrgenommen, triagiert, vernetzt und mit immaterieller Hilfe unterstützt werden.
• Vernetzung und Information über die bestehenden Möglichkeiten sind sehr wichtig und sollten gefördert werden.

 

Für wen muss die Kirche ihre Stimme erheben und wie?

Astrid Schatzmann:
• Arme – Sensibilisierung der Bevölkerung über die Armut in der Schweiz.
• Familien – Stärkung
• Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen, Erhaltung und Bildung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen – Mahnfinger an die Wirtschaft
• Menschen, die integriert werden möchten – Vorurteile abbauen
• Gegen kurzfristiges Kostendenken der Kantone und Gemeinden

Stephan Schranz: Direkte Hilfe zur Notlinderung ist ein erster Schritt. Gemeinsam unterwegs sein, jeder mit seinen eigenen Talenten, ist der zweite. Leider zu oft gerät der Gedanke an diese brachliegenden Talente der "Stummen oder Sprachlosen" in Vergessenheit. Bei den Menschen am Rande der Gesellschaft liegen Talente brach, welche einen Beitrag für eine solidarischere Welt erbringen könnten. Ich würde die Stimme für diese Personen erheben, welche als Freiwillige neben und in der Gemeinschaft der Kirche unterwegs sind.

Andreas Jakob: Als erstes muss die Kirche selbstkritisch sein: Wo hat sie Teil an und wo profitiert sie von ungerechten Strukturen und Verhältnissen?

Zwei Beispiele:
• Der „Finanzdienstleistungssektor“, die Banken und Versicherungen, trägt sehr zum Wohlstand in diesem Land bei – auch zu guten Steuereinnahmen für die Kirchen. Die Schere zwischen sehr reich und arm öffnet sich auch in unserem Land immer stärker. Die Kirche muss die Frage stellen, wem diese Dienstleistung nützt. Verlierer sind häufig junge Familien. Viele können es sich kaum „leisten“, Familie zu werden. Obwohl erwerbstätig, finden sie heute kaum bezahlbaren Wohnraum (ein Zustand wie Ende des 19. Jahrhunderts).

• Die infolge der Einwanderung zunehmende Bedeutung des Islam erschreckt viele Menschen und löst Furcht aus. Aus realen Bedrohungen und geschürten Ängsten ist inzwischen eine gefährliche und feindselige Stimmung entstanden. Immer wo einzelne oder Gruppen zu Feinden erklärt werden, muss Kirche besonders wachsam sein. Verharmlosung ist ebenso unevangelisch wie Opportunismus. Der Kirche ist die „Feindesliebe“ aufgetragen: Kirchgemeinden sollen Muslime aufsuchen, ihnen beharrlich den Weg in unsere Gemeinschaft ermöglichen. Das ist keine einfache Aufgabe, am schwierigsten ist der Anfang!

 

Welche Faktoren sind für Gemeindediakonie wesentlich?

Astrid Schatzmann: Die Kirchenpflegen sollten dahingehend ausgebildet und sensibilisiert werden, dass Sozialdiakonie nicht einfach nebenbei noch ‚gut zu haben‘ ist, falls genügend Geldmittel zur Verfügung stehen. Damit würde sich die Aussage der Aargauer Kirchenratspräsidentin Claudia Bandixen („Kirche ist keine Institution, die nebst der Verkündigung auch noch diakonisch tätig ist. Kirche verkündigt durch Wort und Tat“, Jahresbericht 2007) in Zukunft bewahrheiten. Leider kommt es momentan immer wieder vor, dass sozialdiakonische Stellen bei Sparmassnahmen gestrichen werden.
Zusätzlich sollen kirchlich Mitarbeitende (auch Freiwillige) und Kirchenpflegen auf die bestehenden Nöte und diakonische Fragestellungen sensibilisiert werden, damit diese überhaupt wahrgenommen werden.

Andreas Jakob: Wo nur noch Professionelle diakonisch handeln, wird Diakonie geschwächt, weil Diakonie vom Einzelnen lebt und die Gemeinschaft aller gestalten will. Deshalb benötigen Kirchgemeinden Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone, deren diakonisches Handeln sich darauf richtet, dass Diakonie durch die Menschen der Kirchgemeinde geschieht. Dabei wollen wir nicht nur die „Freiwilligen“ im Blick haben, sondern alle Kirchenmitglieder, denn auch das Kirchensteuer bezahlende Mitglied trägt dazu bei, dass Kirche diakonische Kirche ist.

Marlise Schiltknecht: Diakonie ist ein Wesensmerkmal einer glaubhaften Kirche, sie kann nicht von weiteren Diensten abgekoppelt werden. Diakonie, Liturgie und Verkündigung sind in allen Entscheiden als Einheit zu sehen und zu behandeln. Dazu gehören Verantwortliche für Diakonie auf Behördenebene und Mitarbeitende mit einem Auftrag für Diakonie im Pflichtenheft, mit den nötigen Zeitressourcen.

Stephan Schranz: Eine grosse Offenheit gegenüber allen Menschen, sozialen Institutionen und Schwesterkirchen – aber auch gegenüber den Akteurinnen und Akteuren innerhalb der eigenen Organisation.

 

Wann ist Diakonie überprofessionalisiert? Welche Bedeutung hat das Anleiten und Motivieren von Freiwilligen?

Marlise Schiltknecht: Diakonie umfasst ein Arbeitsfeld welches unterschiedliche fachliche Qualifikationen erfordert. Je nach Ausrichtung, Anforderung und Profil einer Gemeinde braucht es andere Qualifikationen. Überprofessionalisiert kann sie sein, wenn sie sich auf eine fachliche Richtung versteift.

Stephan Schranz: Die erste Frage führt in die Irre. In arbeitsteiligen Prozessen stellt sich immer die Frage, welche Aufgaben mit welcher Qualität erbracht werden müssen. Abhängig von den zur Verfügung stehenden Akteurinnen und Akteuren, sind im einen oder andern Prozess sicher überqualifizierte oder unterqualifizierte Personen am Werk. – Auf Dauer überqualifizierte Fachpersonen zu unterfordern, ist nicht wirtschaftlich und macht krank.
Zur zweiten Frage: Die Freiwilligenarbeit ist nicht zu unterschätzen. Aufgrund meiner Masterarbeit vermute ich, dass die Bedeutung der Freiwilligenarbeit den Profis zu wenig bewusst ist. Die Koordination der Freiwilligen mit genügend Ressourcen auszurüsten, ist Gebot der Stunde, sonst gehen der Kirche die Akteurinnen und Akteure aus.

Andreas Jakob: Es gibt immer diakonische Handlungsfelder, in denen vorrangig Professionelle benötigt werden: meist ausserhalb der Kirchgemeinde in gesamtkirchlichen Stellen, überall dort wo spezialisierte Fachwissen nötig ist, Psychologinnen oder Juristen in der Beratung von Arbeitslosen, Pflegende bei Psychiatriepatienten etc. Aus diesen Überlegungen heraus kann es keine überprofessionalisierte Diakonie geben. Es gibt nur Fehlbesetzungen und schlechte Personalführung.

Astrid Schatzmann: Überprofessionalisiert ist die Diakonie, wenn sie nur noch am Schreibtisch planend stattfindet. Dem Anleiten und Motivieren von Freiwilligen kommt eine sehr hohe Bedeutung zu. Sie sind an der Basis, sie leben in ihrer Nachbarschaft, ohne sie könnte die Diakonie in einer Kirchgemeinde gar nicht existieren.

 

Wie unterstützt Ihre Kirche Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone in den Gemeinden?

Marlise Schiltknecht:
• Fachtreffen in unterschiedlichen Ausrichtung: Animation, Beratung und Armutsprojekte werden angeboten.
• Qualifizierende Ausbildungen werden angeboten: CAS Diakonieanimation, NDK kirchliche Jugendarbeit etc.
• Die Förderung von Freiwilligen wird mit kantonalen und regionalen Weiterbildungsangeboten mitgetragen: Seminar soziales Engagement, First steps, Grundkurse Besuchsdienste.

Astrid Schatzmann: Die Fachstelle Diakonie der Landeskirche Aargau bietet Unterstützung bei konkreten Fragestellungen und Projekten; sie entwickelt aber auch selber Projekte und führt sie gemeinsam mit Kirchgemeinden durch. Es werden Fachkurse (z.B. sozialarbeiterisches Fachwissen für Sozialdiakone/Sozialdiakoninnen) angeboten. Die Landeskirche ist bei strategischen Entscheidungen aktiv.

Stephan Schranz:
Die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn unterstützen die Kirchgemeinden in ihren diakonischen Aufgaben auf vielfältige Weise. Der Bereich Sozial-Diakonie ist für die Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone und ihre Auftragsgeberin erste Auskunftsstelle, betreffend inhaltlichen und strukturellen Fragen. Ebenso wird Anregung, Beratung und Unterstützung in Projektarbeit geleistet.

Andreas Jakob: Durch Aus- und Weiterbildung, mit Unterstützung der fünf Diakonatskapitel, durch Arbeitshilfen und Grundlagen (Leitfaden Alter, Arbeitsheft Familie), mit Beratung und Supervision und – hoffentlich – auch mit beseelten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gesamtkirchlichen Dienste, die eine langjährige Kirchgemeinde-Erfahrung einbringen, fachlich auf der Höhe sind und gut vernetzt mit Partnern, Berufsleuten und Kirchenpflegen, mithelfen, die Diakonie-Themen am Puls der jeweiligen Kirchgemeinde umzusetzen.

 

Wie trägt Diakonie zur Gemeindeentwicklung bei?

Astrid Schatzmann:
• Kirchliche Aufbrüche waren oft von diakonischem Handeln begleitet (z.B. in der Zeit des Pietismus).
• Diakonie ist soziale Relevanz für die unmittelbare Umgebung: Welche Leute sind hier, was für Bedürfnisse haben sie? Das Reich Gottes auf Erden sichtbar machen. Diakonie fällt auf und trägt so zum Nachdenken bei.
• Diakonie soll Salz und Licht in der Gemeinde sein.
• Beziehungen werden gefördert; dies stärkt den Zusammenhalt der Gemeinde.

Andreas Jakob: Diakonie in der Kirchgemeinde ist im Wesentlichen Beziehungsgeschehen und Gemeinschaftsbildung. Nächstenliebe ist unmittelbare Begegnung von Mensch zu Mensch. Diakonie knüpft und pflegt, erneuert, erweitert und stärkt die Beziehungsnetze und das Gemeinschaftgeflecht der Gemeinde. Hilfe und Hilfsbedürftigkeit bringen Menschen in immer wieder neuen Konstellationen miteinander in Beziehung. So wie der Gottesdienst die Menschen zum gemeinsamen Hören ruft, stiftet Diakonie an zum helfenden gemeinsamen Tun.

Das Aktivieren von Beziehungen ist vorrangige Aufgabe der Diakonie. Durch Beziehungen erfahren wir voneinander unsere Nöte und kommen verborgenem Leid auf die Spur. Wo die Aufgabe des Beziehungsstiftens und -pflegens erfüllt wird, kann Not gelindert, kann geholfen werden, gerade auch durch professionelle Soziale Arbeit, zum Beispiel durch Weiterweisung an Spezialisten, durch Zugänglichmachen von Geldmitteln.

Werden Diakonie und Soziale Arbeit gegeneinander ausgespielt, gefährdet dies in erster Linie nicht die soziale Arbeit, sondern das Proprium der Kirche, die Diakonie!

Marlise Schiltknecht: Zur Gemeinde finden, mich in der Gemeinde wohlfühlen kann über das Wort, sowie über die Tat möglich sein. Talente der Gemeindeglieder werden in der Diakonie oft angesprochen und über viele Freiwillige eingebracht.

Stephan Schranz: Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung – oder das "Schöner"-Machen "der Welt" – führen zu weltweiter Solidarität. Sie zu denken ist die eine Seite. Sie zu leben die andere. Gemeinsames Unterwegssein verbindet.

 
Von Astrid Schatzmann zitierte Werke:
Benedict, Hans-Jürgen: „Zwischen diakonischem Kongruieren und religiös-sozialer Sinnvermittlung. Überlegungen zur Professionalität des Diakonenberufs“, in Eurich 2005:157-180.
Daiber, Karl-Fritz: „Sozialarbeit – Diakonie“, in Herrmann/Horstmann: 96-108.
Eurich, Johannes (Hg.): Diakonische Orientierungen in Praxis und Bildungsprozessen. DWI-Info 37. Heidelberg: Diakoniewissenschaftliches Institut, 2005.
Haslinger, Herbert: „Die Frage nach dem Proprium der Diakonie“, in Herrmann/Horstmann: 160-174, 2006.
Hengsbach, Friedhelm: „Christliche Soziallehre“, in WSA5: 836-839, 2005.
Herrmann, Volker und Martin Horstmann: Studienbuch Diakonik. Band 2: Diakonisches Handeln, diakonisches Profil, diakonische Kirche. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2006.
Müller, Wolfgang C.: „Sozialarbeit/Sozialpädagogik“, in WSA5:748-752, 2005.
WSA5 Wörterbuch Soziale Arbeit. Hg.: Dieter Kreft und Ingrid Mielenz. Weinheim und München: Juventa, 2005, 5. Aufl.