«Die Kultur des Miteinanders strahlt aus»

Die Volkskirche betont ihre Offenheit, doch haben Menschen in zahlreichen Milieus wenig Berührungspunkte mit ihr. „Der Schritt heraus aus unserer Homogenität liegt als grosse Aufgabe noch vor uns“, sagt Pfr. Karl Flückiger, der in der Zürcher Landeskirche die Fachstelle Gemeindeaufbau betreut. Im Interview schildert er, wie Kirchgemeinden ihn zu Rate ziehen – und was möglich wäre.

LKF: Wie hangen Gemeindeaufbau und Evangelisation zusammen?

Karl Flückiger: Die Leitung der evangelisch-reformierten Landeskirche Zürich hat die beiden Begriffe in einem Legislaturziel erstmals zusammengebracht. („Der Gemeindeaufbau ist gefördert, die Schulung der Behörden den neuen Rahmenbedingungen angepasst. Mission, Evangelisation und Gemeindeaufbau sind als Aufgaben der Kirche erkannt und deren biblisch-theologische Dimensionen sind für das kirchliche Leben neu zu erschliessen und für die Arbeit in der Gemeinde fruchtbar zu machen.“) Die Beziehung zwischen Evangelisation und Gemeindeaufbau wird nicht näher erläutert, aber ausgedrückt, dass sie zusammen bedacht sein müssen.

In den schweizerischen Landeskirchen wird ein Wandel spürbar, der in Deutschland vor 10 Jahren begonnen hat. Gemeindeaufbau ist inzwischen ein verankertes Handlungsfeld, die Kirchgemeindeleitungen (Präsidium und Gemeindekonventsleiter) werden in Weiterbildungen auf diese Aufgabe vorbereitet. Allerdings ist die entsprechende biblisch-theologische Dimension noch in den Kinderschuhen stecken geblieben. Die Theologen werden zwar sehr gut vorbereitet darauf, Bibeltexte für Gottesdienste hermeneutisch zu erschliessen. Im Bereich Kybernetik, Kirchenleitung also, geschah das bis jetzt kaum oder dann auf einem solch hohen fachlichen Niveau, dass Kirchenpflegen als leitende Behörden, davon überfordert sind. Der Dualismus von Körper und Geist ist auf der Ebene Kirche als System noch nicht überwunden.

Welchen Bereichen und Gruppen müssen wir vermehrte Aufmerksamkeit schenken?

Die Milieuverengung ist für die reformierte Kirche ein strukturelles Problem. Während die katholische Kirche durch den Zuzug von katholischen Fremdarbeitern oder Asylanten sich dauernd neuen Kulturen und Milieus stellen muss, bleiben die Reformierten unter sich. Milieu-Studien haben ergeben, dass jene Teile der Bevölkerung, die sich zur Kirche zählen, vorwiegend aus einer modern-bürgerlichen Mittelschicht stammen; sieben von zehn definierten Milieus haben wenig Berührungspunkte mit diesem kirchlichen Lebensstil.

Oft beschäftigen wir uns damit, wie wir besondere Alters-Zielgruppen ansprechen sollen – und es gibt eindrückliche Beispiele und Modelle. Aber der Schritt heraus aus unserer Homogenität liegt als grosse Aufgabe noch vor uns. Ob und wie wir solch radikale Veränderungsbereitschaft erreichen, ist mir noch nicht klar.

Gemeindeaufbau ist in der Zürcher Kirchenordnung neu aufgegeben. Was löst dies in Kirchgemeinden aus? Mit welchen Fragen werden Sie konfrontiert?

Die Fragen sind vielfältig, sie zeigen manchmal Interesse und Veränderungsbereitschaft, manchmal werden sie vorgeschützt, um zu bleiben, wie man ist.

Ist Gemeindeaufbau = mehr Leute in den Gottesdienst? Das ist zwar ein Denk- und Handlungs-Ansatz, aber greift für sich allein mehrfach zu kurz. Denn 1. geht Qualität vor Quantität, 2. widerspiegelt der Gottesdienst nur einen Teil der Gemeinde und darum ist 3. Gottesdienst nur einer der Bereiche, wo Gemeindeaufbau ansetzt.

Ist Gemeindeaufbau = das, was wir schon immer getan haben? – wir benennen es jetzt ein wenig anders! Christliche Gemeinde geht nicht auf im Status quo, sie behält eine kritische Distanz zu sich selbst, weil sie auf eine zukünftige Welt ausgerichtet ist. (Comenius: „Ich danke meinem Gott, dass er mich zu einem Mann der Sehnsucht hat werden lassen.“)

Heisst Gemeindeaufbau = noch mehr tun? Wir sind eh schon alle überlastet! Gemeindeaufbau ist nicht noch etwas mehr, sondern etwas anderes tun. Legislaturziele fokussieren das Gemeindeleben, nicht alles wird mit gleichen Ressourcen ausgestatten, einiges sogar fallen gelassen. Dazu allerdings braucht es einen Unterbruch im Alltagsgeschehen, um Zeit zu gewinnen, konzeptuell zu beraten und Kriterien für weitreichende Entscheidungen zu entwickeln.

Gemeindeaufbau ist nur populär geworden, weil die Mitgliederzahlen sinken. Vgl. These 2. Wenn die Qualität steigt (im klimatischen, im organisatorischen und im strategischen Bereich), wollen sich Menschen beteiligen. Gemeindeaufbau ist ein Dauerbrenner, auch wenn das Wort erst seit einigen Jahren Mode geworden ist. Gemeinde brennt, weil der Geist bläst.

Die Leute wollen nur das eine – in Ruhe gelassen werden! Zwischen der Schwerkraft und der Fliehkraft Gottes wurde in unseren Kirchen die Attraktions-Methodik vorherrschend. Neue Handlungsweisen sind für den inkarnatorischen Weg der Gemeinde als Salz in dieser Welt einzuüben. Das heisst, aufsuchen, besuchen, Gehstruktur, netzwerken. Mit Zielgruppen etwas aufbauen, statt für sie.

Wir sind doch nicht missionarisch! In der Kommunikation des Evangeliums ist zwischen Vielfalt und Einheit ein Weg jenseits von unverbindlichem Pluralismus und beengender Monokultur zu finden. Dabei ist die Autonomie der Teilbereiche zu respektieren und zugleich die Integration in die Gemeinde zu fordern und fördern in einem konziliarischen Prozess. In allem ist erkenntlich: Wir haben was zu sagen, wir haben eine Mission.

Welche Kernprozesse sind nach Ihrer Erfahrung grundlegend und hilfreich?

Reformen sind nötig. Die Gefahr besteht, dass wir uns beim Reformieren vor allem mit der Perfektionierung von uns selbst beschäftigen, statt dienstbarer und sichtbarer für Menschen werden, unter denen wir leben. Kernprozess eines Gemeindeaufbaus ist also, sich auf die in der Bibel und von der Landeskirche in den Kirchenordnung (Art. 1-5) gegebenen Voraussetzungen abstützen und ein leitendes Motto erarbeiten, an dem wir unsere bisherigen Aktivitäten messen und auf dem Innovationen aufgebaut werden.
Immer mehr Gemeinden erkennen, dass die Art der Zusammenarbeit innerhalb Kirchenpflege und Mitarbeiter sich auf das Gemeindeleben auswirkt, also eine Vorbildwirkung besteht, ob wir das anstreben oder nicht. Die Kultur des Miteinanders strahlt aus, wenn es glaubwürdig, ehrlich, herzlich und offen ist.

Manche Formen des Gemeindeaufbaus hängen von Gaben und Bereitwilligkeit in der Mitarbeiterschaft ab. Was kann eine durchschnittliche Gemeinde angehen und tun?

In Gemeinden sind durchschnittliche Menschen tätig – das war nicht anders beim Jüngerkreis Jesu: anfällig und begeisterungsfähig, widerstrebend und bereitwillig, machthungrig und bescheiden. Wir brauchen nicht ganz starke Verantwortliche, sondern glaubwürdige – in allen Stärken und Schwächen. Die Ausstrahlung einer Gemeinde kann zwar von einer charismatischen Person gestärkt werden, aber wichtiger auf die Dauer ist ein offenes Miteinander, wo sich leben lässt und zugleich Verbindlichkeit spürbar wird. Wo die vorhandenen Menschen wertgeschätzt sind, der Einzelne mit seinen Ideen gefördert und sich die Gemeinde immer wieder neu fragt, wie Gottes Kraft in ihrem Ort wirksam werden kann.

Viele Menschen brauchen seelsorglichen Beistand. Was empfehlen Sie den Gemeinden?

In den reformierten Kirchen wird Seelsorge vor allem rund um die Kasualien beansprucht. Sonst gilt, was eine Kirchenpflegerin letzthin fragte: Warum telefonieren so viele Leute mitten in der Nacht diesem Mike Shiva, aber zu uns kommen sie nicht? Seelsorge in einer Gemeinde wird dann lebendig und zu einem Faktor des Gemeindeaufbaus, wenn etwas vom folgenden gegeben ist:
• Eine Gemeinde hat eine Aufbauphase hinter sich und einen differenzierten Organisationsgrad erreicht; die Leitung fördert verschiedene Dienste und Stile; Freiwillige werden für Begleitung und Seelsorge gesucht und ausgebildet.
• Es leben oder arbeiten in der Gemeinde einige Menschen mit grossen Ohren, ‚Wüstenmütter/-väter’, denen Seelsorge auf den Leib gebrannt ist.
• Einige Frömmigkeits-Stile fördern die Entstehung von qualitativer Seelsorge als Teil von Gemeindeentwicklung: glaubwürdige Exerzitien- und Beichtpraxis (katholischer Stil), individuelle Beziehung zu Gott (pietistischer Stil), freie Formen von kommunitärem christlichem Leben in engagierten Dienstgruppen. Qualitative Seelsorge wird gefördert, wo Psychologie und Glaube als sich ergänzend und Therapie als Glaubenshilfe angeschaut wird, wenn Menschen mit ehemals esoterischem Hintergrund Erfahrung der geistlichen Führung mitnehmen und nun im christlichen Rahmen Entsprechendes wünschen, in verschiedenen Formen von Segnungsgottesdiensten.

Seelsorge in der Gemeinde ist erschwert, wenn
• eine Person oder Berufsgruppe für alle Menschen und ihre Anliegen zuständig sein soll und Seelsorge zum Monopol wird (statt allgemeinem Priestertum),
• von einem Seelsorge-Modell ausgegangen wird, das für alle Probleme und Menschen eine Lösung sein soll (so wie wenn ich einen Hammer in der Hand halte und mir die ganze Welt erscheint, als ob es Nägel hätte),
• Individualismus und Unverbindlichkeit so prägend sind, dass nicht stattfinden kann, nicht darf, was Bonhoeffer über christliche Gemeinschaft sagt: ‚Wir reden einander auf die Hilfe an, die wir beide brauchen. Wir ermahnen einander zu dem Weg, den Christus uns gehen heisst. Wir warnen einander vor dem Ungehorsam, der unser Verderben ist’ (Gemeinsames Leben, Seite 91).

Wie kann, was in einer Gemeinde wohl tut und zum Aufbruch beiträgt, für andere fruchtbar werden? Was können Kirchenleitungen tun?

Vor einer Woche trafen sich Vertreter von fünf Gemeinden, die langfristigen Gemeindeaufbau begleiten lassen. Langfristig angelegte Entwicklungen bringen mehr als eine gut gemeinte Retraite. An diesem Vormittag entstand für jede Gemeinde mehr Freude und Gewissheit, dass sich die Mühe lohnt. Als die Gemeinden über ihre Erfahrungen austauschten, wurde die Sicht von Möglichem geweitet, entstanden neue Ideen, wurde der Wert der eigenen Entwicklung beim Erzählen und Zusammenfassen erkannt, wurde der Glaube gestärkt, dass noch vieles möglich ist. Angestrebt wird darum eine Beratungsform, die mehrere Gemeinden im Aufbruch vernetzt begleitet und so Partnerschaften entstehen lässt.

Arbeitsheft der Zürcher Landeskirche: Gemeinde bauen - Fragen, Prinzipien, Konzepte, Modelle, Zugänge
Webseite der Zürcher Landeskirche mit Materialien zum Gemeindeaufbau