Rückenwind für die Gemeinde

Was zeichnet vitale Gemeinden aus? Von der eindringlichen Analyse aktueller Umbrüche gelangte Prof. Ralph Kunz im Hauptvortrag der Tagung zu hilfreichen Hinweisen für den Umbau der Kirche unter geistlichen Vorzeichen. Er plädierte für eine Kultur der Nachfolge. Der Thurgauer Kirchenleiter Wilfried Bührer schilderte, woran seine Landeskirche arbeitet. Und ein Team aus Bischofszell zeigte auf, was zu nachhaltigem Gemeinde-Aufbau beiträgt.

Vitale Gemeinde zeigt sich an ihren Früchten – an der Frucht des Heiligen Geistes: Wo Gemeinde lebt, sind Liebe, Freude, Friede zu spüren (Galater 5,22). Zu Beginn seines Vortrags über Kennzeichen lebendiger Gemeinden betonte Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie an der Universität Zürich: «Es ist der Geist, der die Frucht hervorbringt, nicht wir.» Gemeinde – das Mit-ein-ander-Sein – sei stärker zu gewichten angesichts der verbreiteten Neigung, biblische Aussagen nur aufs private christliche Leben zu deuten.

An der Tagung, welche das Landeskirchen-Forum und die Thurgauer Kirche gemeinsam durchführten, stellte Kunz den Reformierten eine ambivalente Diagnose: Die Kirche sei noch immer gross und reich, doch der Volkskirche gehe es – wie den Gletschern – ans Lebendige. Der Professor warnte davor, dass gesunde Glieder abgeschrieben und schwache Teile erhalten werden. Die gesellschaftlichen Megatrends wirken sich auf die Kultur des Glaubens aus. «Religion kann wieder attraktiv werden – aber davon profitiert Kirche nicht.» Während des andauernden Abbaus der institutionalisierten Religion sei der Umbau der Kirche voranzutreiben.

Anpassung hilft nicht
Vor allem muss sich, so Ralph Kunz, die Kirche bemühen, das Evangelium intelligent zu kommunizieren. Die reformierte Kirche sei immer noch eine Kirche für viele, auch viele Kulturinteressierte. Sie sei zugleich Bewegung, Institution und Organisation (E. Troeltsch). Als Strategien für die Zukunft taugten weder Selbstsäkularisierung im Sinne von Anpassung an die gesellschaftlichen Trends noch Selbstabschottung als Rückzug ins Reduit noch Selbstbehauptung mit dem stolzen Hinweis auf 500 Jahre Stabilität der Reformierten.

Viviane Baud führte durch die Tagung.

Zwischen den Polen Verdampfung und Versteinerung gibt es laut Kunz den flüssigen Aggregatszustand; in diesem fluiden Raum ist zu arbeiten. Wenn sich liberale und bibelorientierte Kräfte darin einig seien, gelte es jedoch immer noch zu klären, «wer wir als Kirche sind, warum wir Kirche bleiben und wie wir Gemeinden gründen, aufbauen und stärken wollen».

Segnen, denken, überzeugen
Der Zürcher Professor plädierte für einen Paradigmenwechsel zur missionsförmigen Kirche. Bisher drehe sich das Denken um die Erhaltung bestehender Gemeinden – und man habe es sich leisten können, in jeder Generation dieselben Fehler zu machen.

Eine Strukturreform könne zwar den Schein der pastoralen Grundversorgung wahren, mit weniger Profis, die immer mehr Menschen betreuten. Aber eigentlich werde nichts verändert. Diese «bis in die Knochen konservative Strategie» werde langfristig nur etwas bringen, wenn sich «der Leib Christi wieder bewegt».

Kunz verwies auf ermutigende, aber bis jetzt spärlich gesäte Experimente. Er forderte die Kirchenleitungen zum Segnen solcher Initiativen und die Experimentierfreudigen zu beständiger Denk- und Überzeugungsarbeit auf. «Wir müssen fragen, ob das Leben der Kirche Christus ähnlicher wird.»

Wozu die Gemeinde da ist
In dem Zusammenhang bestimmte der Gemeindeforscher als Kennzeichen einer lebendigen Kirche: dass sie sich ausstreckt nach der Mission Gottes. Sie müsse den Fokus gewinnen, den der anglikanische Erzbischof von Canterbury Justin Welby auf den Punkt brachte: Die Kirche existiert, um Gott anzubeten und neue Jünger von Jesus Christus hervorzubringen – «alles andere ist Dekoration.»

Weder Anpassung noch Abschottung hilft: Ralph Kunz.

Mission hat lange keine gute Presse gehabt. Wenn Christen sich auf diese Weise betätigen, «muss klar sein, dass die Kirche dem Herrn gehört: Das sind die Menschen, die Christus gehören – und nicht sich selbst.» So kam Ralph Kunz zur Frage: «Wie können wir eine Kultur der Nachfolge stiften, die Menschen einlädt, sich mit ihren Gaben der Mission anheimzustellen?»

Von Ostern her die Kirche hinterfragen
Laut dem Referenten ist ein «Selbst-bewusst-Kirche-Sein» zu üben für ein gesundes Sendungsbewusstsein. «Scheuen wir uns nicht, Defizite zu benennen, aber stellen wir das Sein der Kirche österlich in Frage.» Insgesamt gilt es, so Kunz, eine Kultur der Tiefe und Spiritualität in den Gemeinden zu entwickeln. Techniken und Strategien genügten nicht. «Wir brauchen geistreiche Praktiken. Wir müssen Christus ähnlicher werden, lernen uns radikal hinzugeben und wieder barmherzig zu sein.»

So schloss Kunz mit einer fünffachen Gestalt des kirchlichen Dienens und einer fünffachen Frucht:

  • Hören, was Gott sagt Freiheit , die nicht beliebig ist
  • Heilen, was zerbrochen ist Friede der nicht bricht
  • Heiligen, was Gott geschaffen hat Feuer, das nicht verbrennt
  • Helfen, wo Leid einsam macht Freundschaft, die nicht enttäuscht
  • Hoffen, wo Verzweiflung herrscht Freude, die ewig hält.

 

Schritte zum Mentalitätswechsel
Wilfried Bührer schöpfte für seine Bemerkungen zu «Vision und Perspektive» aus 16 Amtsjahren als Thurgauer Kirchenratspräsident. Er zeigte das Bild, das seine jüngste Tochter zur Konfirmation wählte: ein absterbender Baumstrunk, in dessen Mitte ein neues Bäumchen hochwächst. Bührer erinnerte an die Jesaja-Worte vom Rest und vom Spriessen des Neuen.

Die Thurgauer Reformierten hätten während Generationen für den Fortbestand ihrer Gemeinden kämpfen müssen, sagte Wilfried Bührer.

In der Gesellschaft Position beziehen: Wilfried Bührer.

Angesichts der aktuellen Verflachung und des Traditionsabbruchs plädierte er für einen Mentalitätswechsel. Mit dem Buch über die 21 in Libyen vom IS geköpften Kopten fragte er: Gehören Martyrium und Christsein nicht zu allen Zeiten zusammen?

Was trägt zu einem Mentalitätswechsel bei? Der Thurgauer Kirchenleiter wurde konkret. Er riet, gegen den Strom des Zeitgeistes positive Schlagzeilen zu machen. Das Büchlein der Landeskirche zur Begleitung von Sterbenden bis ans Ende des irdischen Lebens sei gut aufgenommen worden. Es trage zum Profil der Kirche bei. «Wir sind nicht einfach in Verlängerung des Staates eine Organisation, die auch noch etwas Gutes tut.»

Mitglieder beteiligen
In den letzten Jahren hat die Thurgauer Kirche die Popularmusik gefördert und Gemeinden ermutigt, Fördervereine zu gründen. Sie steht für Glaubenskurse ein und investiert viel in die Förderung von LaienpredigerInnen, um ihrem Prinzip «an jedem Sonntag in jeder Gemeinde ein Gottesdienst» nachzuleben. Man denke neu über Professionalität nach, sagte Bührer; auch fachlich qualifizierte Gemeindeglieder könnten als ehrenamtliche Mitarbeiter Immobilien verwalten.

Der Stehlunch als Gelegenheit zum Austausch.

Diakonie sei neu zu denken – zusammen mit Mission. Klar ist, so Bührer: «Die Übergangszeit stellt hohe Ansprüche an die Leitenden.» Man habe darüber nachzudenken, was das Nebeneinander, Gegeneinander und Miteinander von verschiedenen Strömungen in der Kirche bedeutet. «Wir haben ein weites Dach – wegen Christus.» Wie ein guter Förster habe die Kirche aufs Jungholz zu achten. «Es spriesst schon – erkennt ihr es nicht?»

Und die Migranten?
In einer Frage- und Antwortrunde kam die Herausforderung zur Sprache, welche die Migranten im Land für die alteingesessene Kirche darstellen. Dann die Spannung von Freiheit und Verantwortung. Und das Konzept der Kirche als Jüngerschaftsbewegung (Matthias Kuhn).

Dazu meinte Ralph Kunz, Jüngerschaft sei nicht Selbstzweck. Aber: «ecclesia braucht discipleship». Die akademische Theologie hierzulande habe vernachlässigt, was jenseits des Atlantiks als «spiritual formation» gelehrt werde.

Zur Kluft zwischen Vision und Realität meinte der Professor, die höchst unterschiedlichen Kirchenkonzepte bewirkten Konfusion. Nötig seien offene Foren, auch eine sorgfältige Debatte, um Konkordanz zu erlangen und miteinander im Boot zu bleiben. «Wir sind nicht geschaffen zum Einzelkampf.» Im Werden sieht Kunz eine «ökumenische, transkonfessionelle Kirche, die mehr Freude hat“, auch mehr mitleidet – er erwähnte die uralten Kirchen Syriens.

Freude an der Gemeinde: Leonie Ledergerber und Thomas Friederich aus Bischofszell.

Eifrig, beharrlich und miteinander kreativ
Nach dem Stehlunch gingen die 100 Teilnehmenden in acht Gruppen und hörten miteinander im Bibellabor auf Texte aus den Evangelien. Dann berichteten Pfr. Paul Wellauer und drei engagierte Gemeindeglieder, was sie in der Kirchgemeinde Bischofszell-Hauptwil bewegt – wie die Gemeinde wurde, was sie ist, und was sie übt, um sich weiter zu entwickeln.

Paul Wellauer nannte frühe Weichenstellungen, Beharrlichkeit langjähriger Mitarbeiter, Bemühen um Verständigung mit Kritikern eines Bauprojekts und dessen Gelingen im dritten Anlauf, 300 freiwillig Mitarbeitende und einer Kultur ihrer konsequenten Förderung, Alphalive-Kurse seit 20 Jahren und viele Hauskreise, in denen viele Kursbesucher Aufnahme finden, fortgesetztes Prüfen der Entwicklung im Licht des Leitbilds…

Er teilte zehn Entwicklungsfaktoren mit und zitierte dabei ein Motto des kanadischen Gemeindebauers James Mallon: «Bewege dich mit den Beweglichen und versuch nicht, es den ewigen Nörglern recht zu machen.»

Teams, die sich fortwährend personell erneuern: Paul Wellauer.

Leonie Ledergerber, Rachel Münger und Thomas Friederich ergänzten diese Auskünfte, indem sie vom eigenen Weg zum Glauben erzählten und darlegten, was sie motiviert: authentische, fröhliche Gläubige, Aufgaben auch für Beginner («Leute machen etwas, das sie sich zuvor nicht zutrauten»), Fehlerfreundlichkeit, Gruppen, die sich immer wieder personell erneuern, Woche der Vergebung und Versöhnung, Ermutigung und Freiräume, Motivation vor Perfektion, treue Beter, Spass miteinander haben. Und: «»in die Jugend investieren und sie motivieren, ein Teil der Gemeinde zu sein».

Präsentation von Ralph Kunz: Kennzeichen vitaler Gemeinden  
Vortrag von Wilfried Bührer: Vision und Perspektiven  
Handout der Kirchgemeinde Bischofszell