Schweizer Reformierte im Jahr 2014

Das wärmste Jahr geht zu Ende. In Häusern und Hallen könnte es sich angesichts der Trends in der Ich-Gesellschaft anders verhalten. Der Umbruch der Werte mit Folgen in zentralen Lebensbereichen ist nicht zu übersehen. Die reformierten Kirchen beschäftigen sich derweil intensiv mit sich selbst, da ihre Mitgliederzahlen weiter sinken. - Hier finden sich Streiflichter auf einige Vorgänge im Schweizer Protestantismus, in seinen zwei grössten Kirchen und in der Gesellschaft.

Die Reformierten tasten sich an die Revision der Verfassung des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK heran. Der SEK-Ratspräsident Gottfried Locher wurde im Juni für weitere vier Jahre im Amt bestätigt. Die Arbeit an den kontroversen Grundfragen (Wie sind die Mitgliedkirchen des Kirchenbunds gemeinsam Kirche?) führte nach Unruhe an der Sommer-Abgeordnetenversammlung zu einem ersten Ergebnis: Vier vom Rat erarbeitete Grundaussagen, welche die Präsidenten der Kantonalkirchen vorbesprochen hatten, fanden im November die Zustimmung der Abgeordneten. Die Steine auf dem Weg kamen dabei zur Sprache; auch die Unterschiede zwischen Deutschschweiz und Romandie erschweren die Arbeit. Die vier "„Grundaussagen zum gemeinsamen Kirche-Sein"“ sind:

  • Die evangelisch-reformierte Kirche lebt als Kirchgemeinde (bzw. kirchliche Orts- oder Regionalstruktur), als Mitgliedkirche (bzw. Kantonalkirche) und als Kirchengemeinschaft.
  • Unsere Kirchengemeinschaft ist gesamtschweizerisch 
  • In Ergänzung zu den Synoden der Mitgliedkirchen hat die Kirchengemeinschaft eine Schweizer Synode.
  • Die Kirchengemeinschaft wird synodal, kollegial und personal geleitet.

Mit dem letzten Satz lassen sich die Schweizer Reformierten auf die Debatte über die Gestalt personaler Leitung ein. Der Basler Kirchenratspräsident Lukas Kundert begründet die Wünschbarkeit solcher Leitung in einem Bändchen, das "„Grundlagen für eine Schweizer Ekklesiologie"“ enthält. Kundert stellt darin die weltweite Kirche als dritte Ebene zur Ortsgemeinde und zur „"Regional-/Landes-/Kantonalkirche“."

Reformation vielfältig feiern
Die SEK-Abgeordneten billigten vom Rat vorgelegte Projekte zum Reformationsjubiläum, darunter „"eine effiziente Kommunikation des Jubiläums"“ (R-Logo mit kantonalen Variationen) und ein Evangelisches Jugendfestival. Ebenfalls im November stimmte die Zürcher Kirchensynode einem Fonds zu, mit dem Projekte der Kantonalkirche für die Feiern ab 2017 ermöglicht werden. Der Zürcher Kirchenrat formulierte fürs Jubiläum anspruchsvolle Ziele. „"Christinnen und Christen werden... vor allem nach dem Erneuerungspotenzial des durch die Reformation neu ans Licht getretenen Evangeliums fragen: für das Individuum, für Gemeinde und Kirche sowie für Gesellschaft und Welt.“"

Diakonie stärken
Unter den weiteren Beschlüssen der SEK-Abgeordneten sticht das Ja zu einer Vereinfachung der diakonischen Strukturen (neue Dachorganisation statt bisheriger Gremien, Anbindung an den SEK) heraus. Ein Bericht zur Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit der Kirchen (mit dem Ziel der „"Bündelung, Koordination und Steuerung der kirchlichen Kommunikation in der Schweiz auf allen Stufen"“) liegt vor; die Abgeordneten werden ihn erst im Sommer 2015 behandeln.

Rechenschaft für den Glauben
Vor Jahren erbrachten die unter Reformierten geführten Diskussionen über die Möglichkeit und Wünschbarkeit eines Bekenntnisses kein überzeugendes Ergebnis. Darauf gab der Kirchenbund ein "„evangelisches Glaubensbuch"“ in Arbeit. Das Ergebnis liegt nun vor:"„Rede und Antwort stehen. Glauben nach dem Unservater"“. Verfasst haben das anspruchsvolle Buch gemeinsam sechs Theologinnen und Theologen. Am 3. November wurde der erste Schweizer Predigtpreis verliehen. Der SEK zeichnete 15 Predigten durchaus unterschiedlicher Qualität aus. Auffällig häufig kreisen sie um kantige Gestalten des Alten Testaments.

Ausbilden
Die Ausbildung von Pfarrern und Diakonen ist im Umbruch. Neu können Höhere Fachschulen eine sozialfachliche Ausbildung anbieten, welche der Sozialdiakonie in den Kirchgemeinden Rechnung trägt und eidgenössisch anerkannt ist -– eine grosse Chance namentlich für das Theologisch-Diakonische Seminar TDS Aarau. Im Blick auf den absehbaren Pfarrermangel drängte das Konkordat der Deutschschweizer Kirchen auf einen Kurs für Quereinsteiger Im Herbst billigten die Verantwortlichen ein Konzept der Zürcher Fakultät; ein erster Kurs für Akademiker (mit Master-Abschluss), der in drei Jahren zum Vikariat führt, soll 2015 starten. Die Berner Landeskirche führt einen eigenen Quereinsteigerkurs durch. Im November akkreditierte die Schweizer Universitätskonferenz die Staatsunabhängige Theologische Hochschule STH Basel als universitäre Institution (BTh und MTh anerkannt).

Unter Druck
In der Zürcher Landeskirche wird kaum ein Stein auf dem andern bleiben, wenn der vom Kirchenrat angestossene Reformprozess KirchGemeindePlus nach seinen Vorstellungen abläuft. Kirchenratspräsident Michel Müller bekräftigte Ende November das Ziel, dass Kirchgemeinden sich bis 2018 zu grösseren Einheiten mit 5'000-7'000 Mitgliedern zusammenschliessen sollen. Völliges Neuland betreten die Stadtzürcher Reformierten. Sie beschlossen Ende September in einer Urnenabstimmung, die 33 Kirchgemeinden zu einer Stadtkirchgemeinde zusammenzuschliessen. Weltweit dürfte es keine andere steuerfinanzierte Gemeinde mit über 80‘'000 Mitgliedern geben.

Der Kirchenrat restrukturiert und verschlankt die Gesamtkirchlichen Dienste; die Kirchenräte führen keine Abteilung mehr. Mit der von der Synode verschärften pauschalen Sparvorgabe für 2015 (4,5 Millionen weniger Aufwand) ist ein weiterer Stellenabbau in Sicht; unter diesen Umständen geriet in der Synode auch der generelle Stufenanstieg der Pfarrerlöhne, vom Kirchenrat trotz Spardruck beschlossen, in die Kritik. Die fetten Jahre sind vorbei. Allerdings haben die Zürcher Stimmbürger die Kirchensteuern für juristische Personen im Mai deutlich bejaht.

Lehrplan 21
Die Kritik am Entwurf hat in Stücken gefruchtet. Doch der Lehrplan 21, im November den Kantonen übergeben, sieht kein Fach Religion in der Primarschule vor. Religionen sollen wie Werte- und Umweltfragen thematisiert werden, so wie sie im Alltag der Kinder vorkommen. Allerdings werden im kompetenzorientierten Lehrplan 21 einige biblische Personen namentlich aufgeführt. Grundsätzlich hält er fest: "„Grundkenntnisse christlicher Traditionen und Werte sind nicht nur für christlich sozialisierte Schülerinnen und Schüler, vielmehr gerade auch für solche ohne oder mit anderer Religionszugehörigkeit wichtig, um sich kompetent in Kultur und Gesellschaft zu orientieren."“ Nun ist es an den Kantonen, für gute religiöse Bildung zu sorgen, auch mit Lehrmitteln, die der christlichen Prägung der Kultur angemessen Rechnung tragen.

Interreligiös?
Das Haus der Religionen in Bern, Mitte Dezember mit dem Segen von Vertretern von acht Gemeinschaften eröffnet, setzt ein Zeichen für den Willen zur Pflege interreligiöser Beziehungen. Auf welchem Grund der christlich-islamische Dialog weiter geführt werden kann, ist durch die Gewalteskalation im arabischen Raum, die Verfolgung und Vernichtung christlicher Gemeinschaften und (fehlende Dämme gegen) islamistische Propaganda für den Dschihad noch unklarer geworden. Die Universität Fribourg will ein "„Schweizer Zentrum für Islam und Gesellschaft"“ einrichten (v.a. Kurse zur Weiterbildung von Imamen und Religionslehrern, Fokus auf interreligiöse Sozialethik). Ein Lehrstuhl in islamischer Theologie ist vorerst nicht geplant. Die kantonale SVP opponiert dem Vorhaben.

Vision gegen Abbau
Die Synode der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn will die Zukunft der Kirche und mögliche Wege zu deren Erneuerung in einem offenen Prozess breit diskutieren. Im Reformationsjahr 2017 soll eine gut abgestützte Vision Kirche 21 verabschiedet werden. Neu will die grösste reformierte Kirche auch eine Mitarbeiterzeitschrift herausgeben.

Im Kanton Bern müssen die Reformierten infolge von Sparbeschlüssen des Grossen Rates einen schmerzhaften Abbau der vom Staat bezahlten Pfarrstellen in Kauf nehmen (gegen 2000 Stellenprozente bis 2018). In der Synode hiess es, die Streichungen schwächten die Kirche insgesamt und führten im Seeland und im Berner Jura zu ernsthaften Problemen. Für die Berechnung der Pfarrerstellen werden künftig auch die Zahl der Räume für Kasualien und die Bevölkerungsdichte berücksichtigt. Der Synodalrat legte einen Bericht zum Verhältnis Kirche-Staat vor. Die Kantonsregierung wird dieses Verhältnis in einem eigenen Bericht darlegen, der im März vorgestellt und vom Grossen Rat beraten werden wird.

Familie und Lebensschutz in Frage
Wenn dieser höchst unvollständige Rückblick auf innerkirchliche Vorgänge fokussiert, sind ethische Entwicklungen nicht zu übersehen, die die christlichen Kirchen miteinander herausfordern. An einer Tagung zum Familienrecht im Juni sagte Justizministerin Sommaruga, die Familie gehöre "„zweifellos zu den Grundpfeilern unserer Gesellschaft"“. Doch stelle sich die Frage, ob „"die vielfältigen Familienformen stärker zu schützen"“ seien. Die Basler Rechtsprofessorin Ingeborg Schwenzer hat in einem Gutachten, welches das Bundesamt für Justiz in Auftrag gab, vorgeschlagen: "„Die pater est-Regel ist abzuschaffen und durch die intentionale Elternschaft, die durch Anerkennung mit Zustimmung der Geburtsmutter begründet wird, zu ersetzen.“"

Nach dem Willen des Bundesrates soll die Stiefkindadoption für gleichgeschlechtliche Paaren ermöglicht werden. Die Eidgenössischen Räte wollen die Präimplantationsdiagnostik allen Paaren erlauben, die durch künstliche Befruchtung zu einem Kind kommen wollen; damit droht auch Geschlechterselektion am Beginn des Lebens.

Nicht weniger gravierender ist der Wandel in den Werten, die am Lebensende zum Tragen kommen. „"Der Altersfreitod ist mehrheitsfähig"“, schrieb die Suizidorganisation Exit infolge einer von der Zeitschrift reformiert, in Auftrag gegebenen Umfrage. Exit behauptet, die Schweizer wollten am Lebensende "„nur persönliche ethische Richtlinen gelten lassen. Institutionalisierte und kollektive Ethik, wie sie etwa von den Kirchen vertreten wird, ist kaum mehr relevant"“.