«Wir haben in der Kirche eine Jesus-Demenz»

Positive Gemeindeerfahrungen stehen einem nüchternen Blick auf die Gesellschaft nicht im Weg. Die LKF-Tagung mit Alexander Garth und Thomas Bucher in Zürich-Hirzenbach bot nach der schonungs-
losen Analyse viele ermutigende Impulse. Zukunft eröffnen der Kirche das Bekenntnis zu Christus, dem Retter der Menschen,
und Gemeinschaften, die vor Ort kreativ werden.


Die Ära der Volkskirche geht zu Ende. Alexander Garth, Pfarrer in Wittenberg und bekannter Buchautor, nimmt in seinem Vortrag Wendepunkte der Kirchengeschichte in den Blick und schlägt den Bogen vom Edikt von 380 zu heute: Damals verordnete der römische Kaiser Theodosius das Christentum als Staatsreligion – «Zwangsreligion». Heute ist Glaube etwas, «wofür der Mensch sich entscheiden muss». Die Zugehörigkeit zur Kirche, auch die Weitergabe des Glaubens bricht weg.

Garth, in der DDR aufgewachsen, kontrastiert zwei Megatrends: In Europa erlebt die institutionelle, geerbte Religion einen Niedergang, während Millionen sich eine individuelle «Spiritualität» zulegen. «Die Leute sind nicht weniger religiös, sondern die Religiosität ändert sich», kommentiert Garth. «Heute muss man sich rechtfertigen dafür, dass man noch in der Kirche ist.»

Nahe am Kipppunkt?
Er sieht wie der Religionssoziologe Detlev Pollack einen «Kipppunkt der Säkularisierung»; ihre Dynamik werde sich noch verstärken. Für den Weitgereisten ist klar: «Über Deutschland – und das kommt auch über die Schweiz – läuft gerade eine Säkularisierungswelle, die alles mit sich fortreisst, was nicht in Christus verankert ist.»

Nach 380 sei «ein Minimalchristentum zum Normalchristentum» geworden, bilanziert der Gast aus Sachsen. Mit erschreckenden Folgen: «Das jesusförmige Christentum der Hingabe an Jesus Christus wird in der Kirche zur Ausnahme, zum Fremdling.» Missionarisch gesinnten Gemeinden schlägt heute noch der Sektenvorwurf entgegen.

Minimalchristentum: Alexander Garth in der Stefanskirche Zürich

Im rauhen Gegenwind
Sechs Umbrüche verändern laut Alexander Garth das Erscheinungsbild von Kirche: Sie wird Minderheit, Randphänomen, Fremdling, ein Anbieter unter vielen, namentlich in Städten – und verliert ihren Institutionscharakter. Um den Sturz in die Bedeutungslosigkeit abzuwenden, «müssen wir von der Betreuungskirche zu einer missionsgeformten Kirche werden».

Wie Garth Wege zu den Menschen heute beschreibt, streut er Erfahrungen aus Mitteldeutschland ein. «Diese Ära geht zu Ende. Wir müssen ganz neu aufbrechen.» Es gilt zu tun, «was wir noch nie taten, was nicht Teil unserer DNA ist» – doch eine Grosskirche sei dafür besser aufgestellt als jede Freikirche. «Wie können wir Gottes Sehnsucht nach den Menschen leben?» Auf authentischen Glauben kommt’s an von Menschen, «die aus einer Christusbeziehung herkommen und ein verwandelndes, für andere einladendes Leben führen.»

Reden vom «Kuschel-Gott»
Der Referent nennt vier Herausforderungen. Angesichts der von Theologen «beschädigten Christologie» fordert er, die Einzigartigkeit Jesu als Markenkern zu bekennen. «Wir haben in der Kirche eine Jesus-Demenz.» Gott werde nebulös, «ein Kuschel-Gott, Heizkissen-Gott, immer so etwas, was uns wärmt». Jesus wirke dabei sperrig; so spreche man von ihm wie von einem «frommen Sozialarbeiter, einem religiösen oder ethischen Influencer, einem Lehrer des gelungenen Lebens». Das Christentum darf aber seine Anstössigkeit nicht verlieren: «Gott wird einer von uns und der macht den Weg zum Herzen Gottes frei», als der «Retter von Sünde, Tod und Teufel» (Martin Luther).

Die Auferstehung Christi. Gemälde aus der Renaissance.

Bekehrung!
Der Gast aus Wittenberg fordert, auf die Bekehrung von Menschen hinzuwirken. «Menschen kommen zum Glauben, weil der Heilige Geist über ihnen brütet und sie zum neuen Leben bringt.» Und pointiert: «Der Heilige Geist bestätigt nur eine volle Christologie, nur den biblisch-apostolischen Jesus. Dieser kleingemachte, ideologisch auf das Verstehbare reduzierte Jesus wird nicht vom Heiligen Geist bestätigt. Da sagt der Heilige Geist: Da bleib ich zu Hause – ist nicht mein Jesus.»

Wo der Heilige Geist weht
Als Zweites postuliert Alexander Garth die Wiederentdeckung der Pneumatologie. Oft werde vom Heiligen Geist nur gesagt, er wehe, wo er wolle (Johannes 3,8). Doch sei er «nicht der Inbegriff der Launenhaftigkeit Gottes … Der Heilige Geist weht nicht einfach, wo er will, sondern er bindet sich an das Wort Gottes. Er bindet sich zweitens an den Glauben, an Umkehr, Busse und Beichte.» Er bindet sich an die Sakramente, sagt Garth, und wirkt im Lobpreis.

Die Beichte gilt es wieder zu entdecken, damit Menschen neu anfangen können. Alexander Garth erwähnt das Beichtwochenende in der Jungen Kirche Berlin. «Wie sollen die sonst den ganzen Müll ihres Lebens loswerden, wenn man ihnen immer nur sagt: Gott liebt dich und nimmt dich an, so wie du bist?»

Für missionarische Dynamik alles tun
Als dritte Herausforderung sieht Garth eine Theologie, die dreifach Bekehrung lehrt: zu Christus, zur Kirche als Gottes Instrument und zur Welt als Aufgabenfeld der Kirche. Wenn der Befund der Religionssoziologie stimme, dass die Religion der Zukunft eine gewählte sein werde, müsste sich die ganze Gemeindearbeit auf Bekehrung ausrichten – ein Paradigmenwechsel! In seinem letzten Buch «Untergehen oder umkehren» hat der Autor das Wachstum der Kirche in anderen Kontinenten beschrieben. Er folgert: «Alle Länder Europas sind Missionsländer.» Die Situation erfordert Missionskirchen. Der Bekehrungsbegriff müsse aus der evangelikalen Enge herausgeholt werden.

Chancen für Kirche neu nutzen: Alexander Garth

«Es gibt keinen europäischen und keinen helvetischen Sonderweg», postuliert der Gast aus dem Norden. Und endet seinen weitgespannten Vortrag mit fünf Gesetzen zur missionarischen Dynamik von Gemeinden. Sie haben eine biblisch-apostolische Christologie; sie kennen und erfahren die Kraft des Heiligen Geistes; sie wollen Menschen gewinnen und haben eine kontextuelle Konversionstheologie; sie inkulturieren das Evangelium und sie generieren ein hohes Commitment an Zeit und Finanzen.

Stefanskirche: Freiheit und Kreativität
Für den zweiten Vortrag des Vormittags bittet die LKF-Präsidentin Viviane Krucker-Baud Thomas Bucher, den Präsidenten der gastgebenden Kirchgemeinde Zürich-Hirzenbach, nach vorn. Er reflektiert die erstaunliche Entwicklung der letzten Jahre anhand ihres Leitbilds.

Bucher, der eben seine vierte Amtszeit angetreten hat, sucht im Quartier, an der Grenze Zürichs zu Dübendorf gelegen, reformierte Konditionierungen aufzubrechen, damit Neues entstehen kann. «Wir schaffen ein Umfeld, das Freiheit fördert, Kreativität und vor allem Hören auf Gott. Das ist unsere wichtigste Aufgabe als Leitung der Kirchgemeinde. Weil vieles uns anders konditionieren will.»

Beteiligung und Selbstinitiative
Die meisten Milieus der Menschen rund um die Stefanskirche seien kirchenfern, sagt Bucher nüchtern. Die Kirchenpflege buchstabiere, was zu tun sei, damit sie eher zum Glauben fänden. «Wir versuchen Menschen zu ermutigen und zu ermächtigen, ihren Glauben authentisch zu leben und zu bezeugen.» Dafür schaffe man ein Umfeld, das Beteiligung und Selbstinitiative begünstige, und fördere eine Willkommenskultur: Erstmalige Gottesdienstbesucher werden «vermutlich von mehreren Personen angesprochen». Neue Leute werden nicht zur Mitarbeit angeworben, sondern in einem «Gartengespräch» wird zwei Personen ausgelautet, was ihm/ihr auf dem Herzen liegt – ohne dass Druck gemacht wird.

Gespräche auf dem Vorplatz der Stefanskirche

Flache Hierarchie, kurze Wege
Als Grundsätze der Kirchgemeinde, welche den eigenständigen Weg dem Stadtzürcher Fusionsprozess vorzog, nennt Thomas Bucher Subsidiarität, «sehr flache Hierarchie, viel Freiheiten, viel Kompetenzen auf allen Ebenen, so nahe an der Basis wie möglich, Vertrauen, kurze Entscheidungswege. Alles sehr transparent aufgebaut.» Hirzenbach hat 1600 Mitglieder und 250 freiwillig Mitarbeitende. Über 170 Schlüssel fürs Gemeindezentrum sind im Umlauf. Alle Freiwilligen haben eine Ansprechperson, die mit ihnen Jahresgespräche führen.

Schlagzeilen gemacht hat die Kirchgemeinde vor Jahren mit dem gediegenen Quartiercafé «Coffee & Deeds». Es sei eine echte Brücke ins Quartier geworden, sagt Bucher. Nun steht viel Grösseres an: Die Kirche soll abgerissen und das «Stefansviertel» erbaut werden: eine neue Kirche mit Co-working-Space und etwa 40 Wohnungen. In die Planung bezog man u.a. die 170 Personen ein, die den wöchentlichen Newsletter abonniert haben. Ihnen sandte man zwölf Mails mit Fragen – entsprechend dem Leitbild, das Bucher zitiert: «Als gemeinschaftsorientierte Ermöglichungskirche fördern wir die Beteiligung und ergänzen und bereichern einander.»

Spontanreaktionen auf die Impulse

Schauen, was Gott tut
Der Kirchgemeindepräsident sieht die Hauptaufgabe nicht im Micromanagement, sondern darin, «den Leuten Mut machen zu schauen: Was ist Gott am Tun? Was bewegt sich? Das zu tun, was Gott uns in die Hände gibt – und nicht Projekte auszudenken.» Zu erleben, dass auf diese Weise vieles aufbricht, beglückt Bucher immer wieder. «Wenn eine Aufgabe aufpoppt oder wenn eine Person eine Idee hat, ergeben sich Dinge oft, wenn man ihr auf der Spur bleibt und auf das hört, was Gott will.»

«Ein gutes Miteinander hat Strahlkraft»
Der Kirchgemeindepräsident erwähnt die Villa YoYo; über sie kommen auch muslimische Frauen ins Kirchgemeindehaus. Er erwähnt das evangelische Studienhaus im zweiten Pfarrhaus; die Bewohner haben in der Kirchgemeinde Praxismöglichkeiten. Thomas Bucher freut sich über mehrere Gefässe, in denen regelmässig gebetet wird. Und betont: «Wir versuchen, Sachen so einfach wie möglich zu halten.» Die Reglementierungseifer der Landeskirche mache den Verantwortlichen Mühe, sie bringe «unser Miliz- und Freiwilligensystem oft an die Grenzen».

Thomas Bucher (links) im Gespräch mit einem frischgebackenen Kirchgemeindepräsidenten.

Um diese zahlreichen Arbeiten zu ermöglichen, widmet sich die Kirchenpflege der Beschaffung von Mitteln, «die über den Steuerfranken hinausgehen». Sie hat einen schweizweit ausgerichteten, steuerfreien Förderverein gegründet, mit Sitz in Berg TG. «Wir überlegen, wie wir als Kirche noch relevanter sein und Träume besser unterstützen können.» Denn Bucher ist überzeugt, «dass Gott wirklich seine Kirche neu baut und dass die besten Zeiten der Kirche noch kommen. Daran halten wir fest.»

Mutmachende Impulse
Nach der Beantwortung von Fragen haben die hundert Anwesenden in der langen Mittagspause Gelegenheit zu Gesprächen. Am Nachmittag gehen sie auf den «Marktplatz»: Sechs Referenten von fünf Orten schildern, wie sie aufgebrochen sind und was ihnen begegnet.

Innert einer Stunde können drei Kurzinputs gehört und die Referenten befragt werden. Beni Bucher und Marcel Grob von der Stefanskirche erzählen vom Fundraising und den Erfahrungen im Neubauprojekt.

Die LKF-Präsidentin Viviane Krucker-Baud moderiert den Tag.

Oliver Rüegger berichtet vom Kaffee Wolke 7 in Meisterschwanden AG, Pfr. Kurt Bienz und der Äthiopier Melaku Beyene von der Vernetzung der Jegenstorfer Reformierten ins Dorf, im Rahmen des Projekts jegi hilft. Alexander Garth erzählt, wie in der «mystisch illuminierten» Stadtkirche von Wittenberg der alternative Gottesdienst church@night Gestalt annahm, und Remo Kleiner von Berg TG macht Mut zum Rekrutieren von Ehrenamtlichen für die Jugendarbeit.

Zum Abschluss finden sich die Teilnehmer in der Kirche ein. Bruno Kleeb, Zürcher Kirchenrat, macht Mut, mit Projekten an Kirchenleitungen zu gelangen. Pfrn. Viviane Krucker-Baud schliesst die reichhaltige Tagung mit der Bitte um den Segen.