«Sollte Gott wirklich gesagt haben?»

Das Essen der Frucht vom verbotenen Baum
gab Adam und Eva ein neues Wissen.
«Doch die
ses Wissen nützt nichts, wenn man es
nicht recht gebrauchen kann», sagte der
Systematiker Ingolf Dalferth in einem Vortrag
in Bern. Er stellte den Unterschied zwischen
Geschöpf und Schöpfer ins Licht.

Was sagt die Geschichte von Adam und Eva in Genesis 3 über unser Menschsein aus? Der Evangelisch-theologische Pfarrverein in Bern bearbeitet in diesem Jahr die ersten Kapitel der Bibel. Zu einem Referat über die Sündenfallgeschichte war am 6. März Prof. Dr. Ingolf U. Dalferth zu Gast. Der Systematiker, der bis 2013 in Zürich lehrte und 2020 ein grosses Buch über die Sünde schrieb, gab in Bern eine vielschichtige, weitreichende Auslegung.

Die Geschichte von Genesis 3, für den Referenten ein «biblischer Menschheitsmythos», ist auch noch da präsent, wo man von der Bibel kaum mehr etwas weiss. Und sie wird laut Dalferth regelmässig missverstanden. Denn von Sünde und von Fall sei in diesem Text ebenso wenig die Rede wie von Adam und Eva oder von Para­dies und von Apfel.Heute nehme man aus der Erzählung heraus, was gerade passe. «Man meint ja, zu wissen, worum es geht. Und man greift sich heraus, was einem gegenwärtig wichtig erscheint: sprechende Tiere, empfindende Pflanzen, kommunizierende Bäume, vegane Ernährung, nachhaltige Gartenkultur, starke Frauen und schwa­­che Männer, die Zerstörung des Paradieses durch die Menschen».

Ging das Paradies verloren?
Ingolf Dalferth durchleuchtete die Geschichte dreifach: hermeneutisch, anthropologisch und theologisch. Die Ausleger hätten die Erzählung «im Licht der Strafurteile Gottes über die Schlange, den Mann und die Frau gelesen» und darin den «alles verändernden Wechsel von einem guten Vorher zu einem üblen Nachher in der Menschheitsgeschichte» gesehen: vom Ur-Zustand der Vollkommenheit und Un­schuld zum Zustand der Ver­derbt­heit und Schuld des Men­schen. Dass «der Weg der Menschheit seit einem goldenen Zeitalter immer nur abwärts» führen sollte – was namentlich fortschrittshungrige Menschen abstiess –, ist aber, wie der Referent in Bern ausführte, gar nicht der Gehalt der Geschichte.

Wir täuschen uns: Ingolf U. Dalferth vor dem Evangelisch-theologischen Pfarrverein in Bern.

Es gehe da «nicht primär um den Wandel von einem guten zu einem üblen Zustand des Menschen, son­dern um die Wahrung der Unterschei­dung zwi­schen Schöp­fer und Geschöpf».

Schöpfer und Geschöpf
Die Menschen übertreten das in Genesis 2,16f gegebene Verbot Gottes. Es kommt gemäss Dalferth alles darauf an, diese Unterschei­dung von Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf zu wahren. «Diese Grundunterscheidung nicht zu beachten, sich gegen sie aufzu­lehnen und sie in Frage zu stellen, sein zu wollen wie Gott und leben zu wollen ohne Gott, ist die Ursache aller anderen Ver­kehrungen»: in den menschlichen Beziehungen, im Lebensunterhalt und in den Lebensformen, auch in der Beziehung zu Gott. «Überall über­schreiten Menschen ihre Grenzen und richten damit Unheil an.»

Warum können sie damit nicht aufhören? Nach dem Referenten darum, «weil sie ihrem Schöp­fer nir­gend­wo direkt begegnen, ihre Gottesblindheit an der Wirklichkeit seiner Gegenwart also niemals so scheitert, dass sie ihn als Schöpfer und sich als Geschöpfe erkennen würden. Gottes Ge­genwart ist kein Erfahrungsdatum ihres Lebens.» Und dies, obwohl Menschen nur leben, weil Gott ihnen gegenwärtig ist. «Sie sind in Gottes Gegenwart unfähig, Gottes Ge­genwart wahrzunehmen.»

«Wo bist du?»
In den Worten der Schlange erscheint Gott «als einer, der den Menschen etwas Gutes vorenthalten will, indem er ihnen Grenzen setzt, und die Menschen erscheinen als solche, die von Gott diskriminiert und um ein Gut betrogen werden, das ihnen zusteht». Die Menschen gehen darauf ein – und werden dann von Gott gesucht und gefragt. Sie allein sind einer Antwort fähig, verantwortlich. Dalferth bemerkte: «Sie verbergen sich aber nicht als schuldbewusste Sünder, sondern aus Scham über ihre Nacktheit. … Gott muss daher eingreifen, um nicht nur die Differenz zwischen sich und seinen Geschöpfen, sondern auch die zwischen Menschen und den Tieren wieder zur Geltung zu bringen.»

Die Vertreibung aus dem Paradies. Holzschnitt von Julius Schnorr von Carolsfeld.

Die Vertreibung aus dem Garten, aus Gottes Gegenwart, bedeutet Tod, aber der Schöpfer sorgt vor: «Anders als Gott sind die Menschen sterblich und leben nicht ewig, aber durch Gottes Zuwendung leben sie für eine kurze Zeit und können anderen in der Folge der Generationen zum Leben verhelfen.»

Der Tod ist von daher laut Dalferth zwar «der Sünde Sold» (Römer 6,23), aber durch ihn setzt Gott die heilsame Ordnung der Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf wieder in Kraft. «End­lich­keit ist kein Übel, sondern unsere Weise, mit dem Wissen um den Unterschied zwi­schen Gut und Böse in der Folge der Geschlechter im Bezug auf Gottes Unendlichkeit als Ge­schöpf mit dem Schöpfer zu leben.»

Wie Gott sein?
Genesis 3 sagt auch Grundlegendes zur Identität des Menschen. Dalferth: «Menschen wollen wie Gott sein, und verbauen sich durch ihr Verhalten selbst die Möglichkeit, wirklich Menschen zu sein. Sie werden im Hinblick auf das Wissen um die Unterscheidung zwischen Gut und Böse in der Tat wie Gott. Aber es nützt ihnen nichts, weil sie zugleich sich selbst auf weit folgenreichere Weise verlieren.» Mit dem göttlichen Wissen sind sie noch weniger Mensch, als sie es ohne es waren; davon geben die folgenden Kapitel der Genesis­ Kunde. «Nicht was Menschen können oder nicht können, ist die ent­scheidende Frage, sondern wer sie sind.»

Es gehe hier nicht um Willensfreiheit (Augustins Ansatz), sondern um Identität, sagte Dalferth in Bern: «Wer nicht weiss, wer er ist, dem hilft das Wissen um den Unterschied zwischen Gut und Böse wenig, um sich im Le­ben zu orientieren und die richtigen Entscheidungen zu treffen.» Auch das Wissen darum, was für ihn als Geschöpf gut ist, hat der Mensch zu lernen – wenn er will. «Aber niemand will es wirklich wissen, weil wir ja zu wissen meinen, was für uns gut ist, und unsere Täuschungsanfälligkeit und Ignoranz ignorieren.»

Dies treffe nicht erst auf die Moderne zu, bemerkte Dalferth und verwies auf die reformatorische Theologie. «Von sich aus wollen die Menschen nicht Geschöpfe, sondern Gott sein. Denn wie könnten sie es er­tra­gen, kein Gott zu sein, wenn es Götter gäbe –wie Nietzsche fragte?»

Das Menschsein verfehlt
Der Entscheid ist irreversibel. «Wo Men­schen durch eigenes Tun wie Gott sein wollen, enden sie deshalb dort, wo die Genesis­geschichte Adam und Eva enden sah: in der Gottesferne einer Menschheit, die wie Gott sein wollte und jetzt nicht ein­mal mehr in der Lage ist, in rechter Weise Mensch zu sein ... Menschen wollen wie Gott sein und scheitern schon an ihrem Menschsein.» Der Referent setzte sich an diesem Punkt mit Augustin auseinander, der für den begnadeten Menschen bene velle et male nolle postulierte: dass man nur noch auf gute Weise will und anders nicht mehr will und wollen kann.

Nach dem Vortrag stellten die Teilnehmenden Fragen.

So würde sich die Verheissung der Schlange – anders als gedacht – doch erfüllen: nicht weil die Menschen wie Gott werden, sondern weil Gott wie sie wird – an Weihnachten. Doch gab Ingolf Dalferth zu bedenken: «Ein Gott wie wir ist niemand, auf den man seine Hoffnung setzen könnte. Erfreu­lich wird die Erzäh­lung von der Mensch­werdung Gottes erst, wenn man hin­zusetzt, dass sich da­mit alles ändert.» Die Schlange unterstellte, das Sein wie Gott sei durch menschliches Tun zu erreichen und könne ohne Gott gelebt werden. Dies aber geht diametral gegen den Schöpfungsauftrag von Genesis 1,27f.

Der Mensch als Bild Gottes
So kam der Referent auf den Menschen als Bild Gottes zu sprechen. Mit Bernd Janowski versteht er den hebräischen Begriff tsäläm als ‹Bildsäule›, das heisst für den Menschen, dass er ‹Repräsentationsbild›, ‹lebendige Statue Gottes› sein soll. «Er ist von Gott zum Verantwortungsträger in der Schöpfung gemacht… Nicht durch das, was Menschen für sich betrachtet sind, sondern darin, wie sie leben, was sie tun und wie sie andere behandeln, erweisen sie sich als Ort der Gegenwart des Schöpfers in der Schöpfung – oder eben nicht.»

Die folgenden Generationen – bis Noah – machen es überdeutlich: «Ohne Gottes Eingreifen wäre der Mensch am Ende, er hätte nicht nur den Auftrag seiner Gottebenbildlichkeit verfehlt, sondern er wäre nicht mehr der Ort in der Schöpfung, an dem sich Gottes Gegenwart erschliessen könnte, weil es ihn nicht mehr gäbe.»

Gottes Gegenwart verdeutlichen – oder verdunkeln
Die Menschen haben es laut Ingolf Dalferth in der Hand, durch ihren Umgang mit ihren Mitgeschöpfen Gottes Gegenwart zu ver­dunkeln oder sie zu verdeutlichen. «Sie können durch ihr Verhalten nega­tiv verhindern, dass sie als Gottes Bild leben und Gottes Gegen­wart deutlich machen. Aber sie können nicht positiv bewirken, dass sie das tun, wenn Gott es nicht von sich aus durch sie tut.»

Dies aber geschah – definitiv – in Christus. Gottes Selbstvergegenwärtigung im Leben, Sterben und Tod Jesu wurde durch seine Auferweckung «in Gottes schöpferische Wirklichkeit hinein aufge­ho­ben, also zu einer unveränderlichen Bestimmung und Wahrheit Gottes selbst». Was Gott mit Adam vorhatte, wurde in Christus Wirklichkeit (Römer 5,12ff).

Christen hätten sich von Beginn an entsprechend verstanden, sagte Dalferth: «Als Glieder am Leib Christi bringen sie Got­tes Gegenwart im konkreten Vollzug ihres Lebens zur Darstellung und bedürfen nicht besonderer kultischer Orte und Vorkehrungen, um das zu tun.»

Inkarnation von der Auferstehung her denken
Die Auseinandersetzung mit Augustins Konzeption führte Ingolf Dalferth zur Pointe: «Man wird nicht menschlich, wenn man sein will wie Gott, aber man wird es auch nicht, wenn Gott sein will wie der Mensch. Gott kann nichts werden, ohne es neu zu machen. Und für die Menschen gibt es kein wahres – also wahrhaft menschliches – Menschsein ohne Wahrung der Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf. Wird Gott mit dem Men­schen eins, dann schafft er ihn neu und macht sich ihm nicht gleich. Er bleibt der Schöpfer und der Mensch das Geschöpf. Aber diese Differenz ist jetzt kein Ge­geneinander, sondern ein Mit- und Beieinander, in dem Gott und Mensch nicht gleich, son­dern eins sind.»

Die Auferstehung Christi. Matthias Grünewald, Isenheimer Altar, Colmar (Ausschnitt).

Ins Werk gesetzt wurde dieses durch die Auferweckung von Christus. «Nicht die Geburt des Gottessohnes, sondern die Aufer­weck­ung des Gekreuzigten ist der Beginn des Christentums.»

Der Evangelisch-Theologische Pfarrverein befasst sich an seinen Treffen 2023 mit der Urgeschichte: Gottes gute Schöpfung und die Natur, in der wir leben